Sonntag, 3. Mai 2020

Kurze Abhandlung über Raum und Zeit

(zuletzt aktualisiert am 4. Oktober 2020)

1. Raum und Zeit sind angeborene Ordnungssysteme, mit denen die Evolution unseren Verstand ausgestattet hat, damit wir uns besser in der Welt orientieren können.

2. Raum und Zeit existieren nicht wie andere Dinge in der Außenwelt. Sie sind auch keine Eigenschaften der Materie. Sondern sie sind nach Immanuel Kant die grundlegenden Formen unseres Denkens und Erkennens.

3. Außerhalb des Verstandes gibt es weder Raum noch Zeit. In der realen (physischen) Welt gibt es nur die Dinge. Ohne unser bewusstes Zutun ordnet der Verstand das Nebeneinander der Dinge mit Hilfe des Raumes, das Nacheinander der Dinge mit Hilfe der Zeit.

4. Kants idealistische Philosophie sah keinen Zusammenhang zwischen unseren angeborenen Denkkategorien und der realen Welt. Die Lösung dieses Problems liegt in der evolutionären Erkenntnistheorie. Deren ursprüngliche Grundüberlegung stammt von Konrad Lorenz (1903-1989): Genauso wie der Huf des Pferdes zum Steppenboden und die Flosse des Fisches ins Wasser passt, passen Kants apriorische Denkkategorien zur Außenwelt.

5. Das Nebeneinander und das Nacheinander der Dinge zeigt sich in den Relationen zwischen den Dingen, also in Größenverhältnissen, Abständen, Positionen sowie in der Dauer zwischen Ereignissen. Der geradlinig dreidimensionale Raum ist die Maßschablone, mit der unser Verstand die Dinge ordnet und die Form eines Dinges erkennt. Die Zeit ist der Maßstab für die Dauer, d.h. für den Abstand der Aufeinanderfolge zwischen zwei Ereignissen.

6. Die Zeit fließt nicht dahin, sondern ist ein fester Maßstab. Was wir beobachten, ist der Fluss der Veränderungen und Ereignisse. Unbewusst ordnet unser Verstand jedes Ereignis einem bestimmten Zeitpunkt zu. Deshalb glauben wir, dass die Zeit fließt. Anschaulich symbolisiert wird das an der herkömmlichen Form der Uhr: Wir irren, wenn wir glauben, am Lauf des Zeigers den Lauf der Zeit zu beobachten. Das Zifferblatt ist die feststehende Zeitskala. Der bewegliche Zeiger ist dagegen ein Teil der sich ständig verändernden Welt.

7. Die Zeit ist nicht subjektiv, sondern objektiv, weil allen Menschen dieselbe Vorstellung von Zeit angeboren ist. Sie ist objektiv, weil die Sekunde als Maßeinheit exakt definiert und durch Gesetze und internationale Vereinbarungen festgelegt ist.

Der Raum ist ursprünglich subjektiv insofern, als unten und oben in unterschiedlichen Teilen der kugelförmigen Erdoberfläche unterschiedliche Richtungen bezeichnen. Der Raum ist objektiv, weil allen Menschen dieselbe Vorstellung des einen, unveränderlichen Raumes angeboren ist. Der Raum ist auch objektiv, weil wir ihn an bestimmten Dingen der Außenwelt festmachen. Auf diese Weise wird eine Verständigung  der Individuen über die Position von Dingen der Außenwelt möglich. So dient in der Astronomie zum Beispiel die Ebene der Erdbahn um die Sonne als Orientierung. Allerdings fördert die  Objektivierung des Raumes unser angeborenes Vorurteil, der Raum befinde sich außerhalb von uns.

8. Die Zeit ist nicht nur objektiv, sondern sie ist absolut aus folgenden Grund:
Die Welt als Ganzes befindet sich zu jedem Zeitpunkt in einem bestimmten Zustand. Dieser Zustand ändert sich von Augenblick zu Augenblick  durch Bewegung und Veränderung - von den Schwingungen der Atome bis zu Geschehnissen in kosmischer Größenordnung. Wenn die Welt als Ganzes zu jedem Zeitpunkt in einem bestimmten Zustand ist, dann ist jeder Zeitpunkt überall derselbe. Wäre es nicht so, dann würde die Welt als Ganzes nicht gleichzeitig existieren.

9. Unser Verstand ordnet die in der Außenwelt vorhandenen Dinge in das dreidimensionale geradlinige Raumschema ein, ohne dass uns dies bewusst ist. Weil die Dinge in der Außenwelt sind,  glauben wir irrtümlich, auch der Raum befinde sich in der Außenwelt. Aber was ist der Weltraum, wenn der Raum nur im Verstand existiert? Außerhalb des Verstandes gibt es nur die Dinge. Der Raum in der Außenwelt ist eine Projektion des Verstandes. Daher bezeichne ich den äußeren Raum als Raumprojektion. Wir können von Natur aus die Dinge nur im dreidimensional-geradlinigen Raumschema erkennen und beschreiben. Deshalb hat Immanuel Kant den Raum (und die Zeit) als die angeborenen Grundformen unseres Denkens und Erkennens bezeichnet. Übrigens: Die vermutete Sattelform des relativistischen Weltraums ist nur in einem dreidimensional-geradlinigen Raum erkennbar. 

Dass durch die Fortschritte der Mathematik auch mit gekrümmten und mit mehr als drei Dimensionen gerechnet werden kann, verändert nicht die reale Welt. Mathematisch kann man alle Raumpunkte auch in einem zweidimensionales Koordinatensystem darstellen oder auch in einer Linie anordnen (siehe die Minkowski-Diagramme zur Raumzeit). Der mathematischen Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, aber nicht alles was mathematisch darstellbar ist, ist ein Abbild der Wirklichkeit.

10. Die Physik hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts für den Relationismus entschieden: danach bestehen Raum und Zeit in den Relationen zwischen den Dingen. Doch eine Philosophie, die nicht zwischen dem zu Messenden (den Relationen der Dinge) und den Maßstäben (Raum und Zeit) unterscheidet, macht Raum und Zeit abhängig von der Materie. Wenn Raum und Zeit Relationen zwischen den Dingen sind, dann verändert sich der Raum und das Zeitmaß wird relativ, weil sich die Dinge bewegen. Nicht ohne Grund gelten heute Raum und Zeit als die großen Rätsel der relativistischen Physik. Manche behaupten gar, die Zeit sei eine Illusion - ein Gedanke, der aus Einsteins späten Jahren stammt, als ihn Zweifel an seiner eigenen Theorie plagten. Dem Positivismus des 19. Jahrhunderts galt alles, was nicht materieller Natur oder nicht sichtbar ist, als Illusion. Doch wir sind im 21. Jahrhundert.

 

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