Sonntag, 29. November 2020

Eine kurze Geschichte der Zeit

 Aristoteles (384 - 322) gilt als Begründer der Tradition, die Zeit rational zu erklären. Er definiert die Zeit als die Zahl (oder das Maß) der Bewegung nach dem Früher oder Später. Dagegen kommt der auch heute noch oft zitierte Augustinus (354 - 430) am Ende seiner Überlegungen zu dem Schluss, dass die Zeit ein Rätsel ist.

In der Neuzeit wird die Frage nach dem Wesen der Zeit zunächst in zwei unterschiedliche Richtungen beantwortet. Nach Isaac Newton (1642 - 1727) existieren Raum und Zeit in der gleichen Weise wie andere Dinge. "Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf äußere Gegenstände."  Diese Auffassung wurde von der Nachwelt als Substantialismus bezeichnet, weil Raum und Zeit Substanzen sind, d. h. Dinge, die unabhängig von anderen Dingen existieren.  Gäbe es nicht die Dinge, die im Raum und in der Zeit existieren, so gäbe es immer noch Raum und Zeit. - Die Gegenposition zu Newton vertritt Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 - 1716). Für ihn sind Raum und Zeit keine realen Dinge, sondern Ordnungssysteme, die in den Relationen zwischen den Dingen bestehen. "Der Raum ist die Ordnung gleichzeitig existierender Dinge, wie die Zeit die Ordnung des Aufeinanderfolgenden." Diese Auffassung wird als Relationismus bezeichnet.

Immanuel Kant (1724 - 1804) diskutiert Substantialismus und Relationismus und verwirft beides. Raum und Zeit sind angeborene Formen unseres Denkens und Erkennens. Die Erfahrungserkenntnis ist durch Formen des Denkens bedingt, welche der Erfahrung vorausgehen. Ohne diese a priori gegebenen Verstandeskategorien (insbesondere die Begriffe von Raum, Zeit, Zahl) ist überhaupt keine Aussage über Objekte möglich. Die angeborenen Denkkategorien gehen jeder Erkenntnis und Wissenschaft voraus und können daher durch die Wissenschaft nicht nach Gutdünken definiert werden. 

Der Physiker und Philosoph Ernst Mach (1838 - 1916) war einer der führenden Vertreter der theoretischen Physik des 19. Jahrhunderts. Nach seiner positivistischen Auffassung konnte Zeit nur etwas sein, das man beobachten und messen kann. Wie schon Newton beklagt hatte, gingen aber die Uhren nicht hinreichend genau, um die absolute Zeit zu messen. Deshalb forderte Mach, die absolute Zeit als eine metaphysische Idee aus der Physik zu entfernen. Der junge Albert Einstein (1879 - 1955), der Ernst Mach als sein Vorbild betrachtete, versuchte dessen Forderung durch die Theorie der relativen Zeit (1905) zu verwirklichen. Der Mathematiker Hermann Minkowski (1864 - 1909) ist der Erfinder der vierdimensionalen Raumzeit. Diese stellt die Effekte von Einsteins relativer Zeit in geometrischer Form dar (sog. "Minkowski-Diagramme"). Damit verbunden ist die Idee, dass Raum und Zeit gegeneinander austauschbar seien. Auf  Betreiben von Max Planck wurde die Raumzeit zum Bestandteil der Relativitätstheorie erklärt.

Im 20. Jahrhundert machten bedeutende Denker die gesamte Bandbreite des Zeitbegriffs - Zeit im kulturellen, historischen, soziologischen, psychologischen, lebens- und existenzphilosophischen Sinne - zum Thema. Meine Philosophie beschränkt sich auf die Zeit, die als Maßeinheit oder als messbar verstanden wird, also die Zeit, die von Aristoteles bis Einstein das Objekt des Denkens ist. Sie wird meist als objektive oder physikalische Zeit bezeichnet.

Sonntag, 3. Mai 2020

Kurze Abhandlung über Raum und Zeit

(zuletzt aktualisiert am 4. Oktober 2020)

1. Raum und Zeit sind angeborene Ordnungssysteme, mit denen die Evolution unseren Verstand ausgestattet hat, damit wir uns besser in der Welt orientieren können.

2. Raum und Zeit existieren nicht wie andere Dinge in der Außenwelt. Sie sind auch keine Eigenschaften der Materie. Sondern sie sind nach Immanuel Kant die grundlegenden Formen unseres Denkens und Erkennens.

3. Außerhalb des Verstandes gibt es weder Raum noch Zeit. In der realen (physischen) Welt gibt es nur die Dinge. Ohne unser bewusstes Zutun ordnet der Verstand das Nebeneinander der Dinge mit Hilfe des Raumes, das Nacheinander der Dinge mit Hilfe der Zeit.

4. Kants idealistische Philosophie sah keinen Zusammenhang zwischen unseren angeborenen Denkkategorien und der realen Welt. Die Lösung dieses Problems liegt in der evolutionären Erkenntnistheorie. Deren ursprüngliche Grundüberlegung stammt von Konrad Lorenz (1903-1989): Genauso wie der Huf des Pferdes zum Steppenboden und die Flosse des Fisches ins Wasser passt, passen Kants apriorische Denkkategorien zur Außenwelt.

5. Das Nebeneinander und das Nacheinander der Dinge zeigt sich in den Relationen zwischen den Dingen, also in Größenverhältnissen, Abständen, Positionen sowie in der Dauer zwischen Ereignissen. Der geradlinig dreidimensionale Raum ist die Maßschablone, mit der unser Verstand die Dinge ordnet und die Form eines Dinges erkennt. Die Zeit ist der Maßstab für die Dauer, d.h. für den Abstand der Aufeinanderfolge zwischen zwei Ereignissen.

6. Die Zeit fließt nicht dahin, sondern ist ein fester Maßstab. Was wir beobachten, ist der Fluss der Veränderungen und Ereignisse. Unbewusst ordnet unser Verstand jedes Ereignis einem bestimmten Zeitpunkt zu. Deshalb glauben wir, dass die Zeit fließt. Anschaulich symbolisiert wird das an der herkömmlichen Form der Uhr: Wir irren, wenn wir glauben, am Lauf des Zeigers den Lauf der Zeit zu beobachten. Das Zifferblatt ist die feststehende Zeitskala. Der bewegliche Zeiger ist dagegen ein Teil der sich ständig verändernden Welt.

7. Die Zeit ist nicht subjektiv, sondern objektiv, weil allen Menschen dieselbe Vorstellung von Zeit angeboren ist. Sie ist objektiv, weil die Sekunde als Maßeinheit exakt definiert und durch Gesetze und internationale Vereinbarungen festgelegt ist.

Der Raum ist ursprünglich subjektiv insofern, als unten und oben in unterschiedlichen Teilen der kugelförmigen Erdoberfläche unterschiedliche Richtungen bezeichnen. Der Raum ist objektiv, weil allen Menschen dieselbe Vorstellung des einen, unveränderlichen Raumes angeboren ist. Der Raum ist auch objektiv, weil wir ihn an bestimmten Dingen der Außenwelt festmachen. Auf diese Weise wird eine Verständigung  der Individuen über die Position von Dingen der Außenwelt möglich. So dient in der Astronomie zum Beispiel die Ebene der Erdbahn um die Sonne als Orientierung. Allerdings fördert die  Objektivierung des Raumes unser angeborenes Vorurteil, der Raum befinde sich außerhalb von uns.

8. Die Zeit ist nicht nur objektiv, sondern sie ist absolut aus folgenden Grund:
Die Welt als Ganzes befindet sich zu jedem Zeitpunkt in einem bestimmten Zustand. Dieser Zustand ändert sich von Augenblick zu Augenblick  durch Bewegung und Veränderung - von den Schwingungen der Atome bis zu Geschehnissen in kosmischer Größenordnung. Wenn die Welt als Ganzes zu jedem Zeitpunkt in einem bestimmten Zustand ist, dann ist jeder Zeitpunkt überall derselbe. Wäre es nicht so, dann würde die Welt als Ganzes nicht gleichzeitig existieren.

9. Unser Verstand ordnet die in der Außenwelt vorhandenen Dinge in das dreidimensionale geradlinige Raumschema ein, ohne dass uns dies bewusst ist. Weil die Dinge in der Außenwelt sind,  glauben wir irrtümlich, auch der Raum befinde sich in der Außenwelt. Aber was ist der Weltraum, wenn der Raum nur im Verstand existiert? Außerhalb des Verstandes gibt es nur die Dinge. Der Raum in der Außenwelt ist eine Projektion des Verstandes. Daher bezeichne ich den äußeren Raum als Raumprojektion. Wir können von Natur aus die Dinge nur im dreidimensional-geradlinigen Raumschema erkennen und beschreiben. Deshalb hat Immanuel Kant den Raum (und die Zeit) als die angeborenen Grundformen unseres Denkens und Erkennens bezeichnet. Übrigens: Die vermutete Sattelform des relativistischen Weltraums ist nur in einem dreidimensional-geradlinigen Raum erkennbar. 

Dass durch die Fortschritte der Mathematik auch mit gekrümmten und mit mehr als drei Dimensionen gerechnet werden kann, verändert nicht die reale Welt. Mathematisch kann man alle Raumpunkte auch in einem zweidimensionales Koordinatensystem darstellen oder auch in einer Linie anordnen (siehe die Minkowski-Diagramme zur Raumzeit). Der mathematischen Phantasie sind keine Grenzen gesetzt, aber nicht alles was mathematisch darstellbar ist, ist ein Abbild der Wirklichkeit.

10. Die Physik hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts für den Relationismus entschieden: danach bestehen Raum und Zeit in den Relationen zwischen den Dingen. Doch eine Philosophie, die nicht zwischen dem zu Messenden (den Relationen der Dinge) und den Maßstäben (Raum und Zeit) unterscheidet, macht Raum und Zeit abhängig von der Materie. Wenn Raum und Zeit Relationen zwischen den Dingen sind, dann verändert sich der Raum und das Zeitmaß wird relativ, weil sich die Dinge bewegen. Nicht ohne Grund gelten heute Raum und Zeit als die großen Rätsel der relativistischen Physik. Manche behaupten gar, die Zeit sei eine Illusion - ein Gedanke, der aus Einsteins späten Jahren stammt, als ihn Zweifel an seiner eigenen Theorie plagten. Dem Positivismus des 19. Jahrhunderts galt alles, was nicht materieller Natur oder nicht sichtbar ist, als Illusion. Doch wir sind im 21. Jahrhundert.