Donnerstag, 16. Juli 2015

Theorie der Zeit


zuletzt bearbeitet im Dezember 2022

Grundüberlegung: 
Die Zeit ist, wie zum Beispiel auch Raum oder Zahl, eine angeborene Form des Denkens und Erkennens, eine Denkkategorie a priori im Sinne von Immanuel Kant. Der in der idealistischen Philosophie Kants nicht erkennbare Zusammenhang zwischen Denkkategorien und realer Außenwelt wird durch die evolutionäre, durch die Umwelt beeinflusste Entwicklung des Verstandes hergestellt. Als angeborenes Ordnungssystem besteht die Zeit ursprünglich in der Unterscheidung von vorher, jetzt und nachher. Daraus entwickelt sich auf natürliche Weise die Zeit als Maß für die Abstände in der Aufeinanderfolge von Veränderungen oder Ereignissen.


1. Einleitung

Philosophieren besteht darin, Antworten auf Fragen zu suchen, die nur durch das Denken gefunden werden können. Darin unterscheidet sich die Philosophie von der Naturwissenschaft, die vorrangig durch Beobachten, Messen, Experimentieren und Berechnen ihre Erkenntnisse gewinnt. Die Frage nach dem Wesen von Raum und Zeit wurde schon durch Denker in der Antike gestellt. Doch der Untergang der damaligen Zivilisation bedeutete auch einen Abbruch und Verlust von  Denken und Wissen.

Gegenstand meiner Theorie ist die Zeit, die als Maßeinheit definiert wird oder als messbar verstanden  und meist als physikalische oder objektive Zeit bezeichnet wird. Sie ist zu unterscheiden von gefühlter Zeit, die Gegenstand der Psychologie ist. Sie ist auch zu unterscheiden von soziologischen, existenzphilosophischen und anderen Zeitkonzepten. Die Frage, was die Zeit eigentlich ist - ein real existierendes Ding, eine Eigenschaft der Dinge und der Welt, eine Kategorie des Denkens und Erkennens - ist ursprünglich eine naturphilosophische Frage.

Die Zeit ist kein physikalisches Ding und keine Eigenschaft von Dingen, sondern ein abstraktes Ordnungs- und Maßsystem. Der gleichmäßige Wechsel von Tag und Nacht ist der Ursprung der Zeit. Durch die evolutionäre Entwicklung des Verstandes entsteht die Zeit als angeborene Vorstellung. Aber nicht die Zeit fließt dahin, sondern die realen Vorgänge und Zustände der Welt bilden einen Verlauf.  Mit dem auf der Zeitskala gleichmäßig fortschreitenden Uhrzeiger messen wir die Dauer von Geschehnissen und Veränderungen. Daraus folgt das Streben nach gleichmäßig gehenden Uhren. Es gibt nur eine Zeit, die überall dieselbe ist, weil sich die Welt als Ganzes in jedem Augenblick in einem bestimmten Zustand befindet.

Die Zeit ist ein abstraktes Ordnungssystem, das uns infolge der evolutionären Entwicklung des Verstandes angeboren ist. Am Maßstab der Zeit messen wir den Fortgang der realen Geschehnisse.  "Außerhalb des Verstandes gibt es nichts, was man als Zeit bezeichnen kann" (Helmut Hille). Dies darzulegen ist das Hauptziel meiner Theorie. Daneben sind die Begriffe "Gleichzeitigkeit" und "Uhrzeit" zu erklären. Der Satz von Helmut Hille "Zeit ist das Maß der Dauer" erschließt sich nicht ohne weiteres, denn er nimmt Bezug auf Newton. Aber für Newton ist "Dauer" nur ein anderes Wort für "Zeit". Wenn wir aber, anders als Newton,  die Unterscheidung treffen einerseits zwischen "Dauer" als einer Relation zwischen realen Dingen bzw. Ereignissen und andererseits der im Verstand gegebenen Zeit als Maßstab der Dauer, so kommt Licht in den rätselhaften Charakter der Zeit. Allerdings verlangt die nachfolgend dargelegte Theorie von uns, bestimmte Denkgewohnheiten aufzugeben, indem sie unsere uralte Vorstellung vom Dahinfließen der Zeit in Frage stellt. Denn nicht die Zeit als Maßstab fließt dahin, sondern die Veränderungen der realen Dinge bilden einen Verlauf von Bewegung und Veränderung.


2. Substantialimus, Relationismus, Idealismus

Aristoteles (384 - 322 vor Chr.) definierte die Zeit als Zahl - auch als Maß - der Bewegung (oder das Gezählte an der Bewegung) nach dem Früher oder Später. Der Gedanke ist mit der antiken Zivilisation  untergegangen. Der erhalten gebliebene Teil der Schriften des Aristoteles ist auf Umwegen teils über Konstantinopel, teils über das arabische Spanien in das christliche Mittelalter gelangt. Doch erst zweitausend Jahre nach Aristoteles gewann die Philosophie wieder die Erkenntnis, dass die Zeit ein abstraktes Ordnungssystem ist.

Newtons  Substantialismus scheitert an der Frage, was die Zeit ist, die es als ein Ding neben dem Materiellen gibt. Weil das Nebeneinander und das Nacheinander der Dinge in der Außenwelt stattfindet, hat Newton offenkundig die uns angeborene Vorstellung der absoluten, das heißt der universellen und gleichmäßig verlaufenden Zeit, in die Außenwelt verlegt, ein psychologischer Vorgang, den man seit Sigmund Freud als Projektion bezeichnet.

Der Relationismus von Leibniz führt zwar zu der plausiblen Konsequenz, dass es ohne Veränderung keine Zeit gibt. Aber Veränderung allein ist keine Zeit. Leibniz bezeichnet die Zeitrelationen als die Ordnung des Nacheinander. Doch das Neben- und Nacheinander der Veränderungen in der Welt ist keine Ordnung, sondern Chaos. Erst der Verstand bringt Ordnung in das Chaos. Außerdem ist der Einwand bekannt, dass der Relationismus Raum und Zeit bereits voraussetzt, wenn er sagt, dass Raum und Zeit in den räumlichen und zeitlichen Beziehungen zwischen den Dingen bestehen. Leibniz unterliegt einem ähnlichen Irrtum wie Newton, indem der die Welt durch die Brille der uns angeborenen Ordnungsstruktur Zeit betrachtet  - was wir unbewusst alle tun - und dadurch die im Verstand gegebene  Ordnung nicht im Verstand, sondern in der Außenwelt sieht.  Die Theorie von Leibniz, wonach Zeit eine Relation zwischen den Dingen ist, erscheint bestechend einfach und dadurch überzeugend. Doch zu Lebzeiten von Leibniz war noch nicht bekannt, dass Raum und Zeit angeborene Kategorien unseres Denkens und Erkennens sind. Der Relationismus versteht die Zeit als ein Attribut der materiellen Welt. Doch Veränderung ist keine Zeit, sondern ist die  äußere Ursache für die Entstehung der Zeit im Verstand.

Immanuel Kant schwankte jahrelang zwischen Substantialismus und Relationismus und verwarf am Ende beides. Die Zeit ist weder ein Ding, das in der Realität existiert, noch ist sie eine Eigenschaft von Dingen. Sondern die Zeit ist, wie der Raum, eine angeborene Denk- und Erkenntniskategorie, eine Grundform unseres Denkens und Erkennens. Allerdings konnte Kants idealistische Philosophie nicht erklären, warum wir uns mit den angeborenen Vorstellungen von Raum und Zeit in der Wirklichkeit zurechtfinden. Seine Erkenntnistheorie, wonach wir nicht die Dinge an sich, sondern nur ihre Erscheinungen erkennen, hatte keinen darüber hinaus gehenden Bezug zur realen Außenwelt. Dies ist einer der Gründe dafür, dass die theoretische Physik um 1900 Ernst Mach folgte und sich die relationistische Auffassung von Raum und Zeit zu eigen machte. Mach, einer der bedeutendsten Protagonisten der theoretischen Physik am Ende des 19. Jahrhunderts, ging sogar noch einen Schritt weiter als Kant, indem er die die Existenz einer objektiven Wirklichkeit überhaupt in Frage stellte. Damit war ein Grundstein für den Subjektivismus und Relativismus in der Physik gelegt.


3. Zeit ist eine Ordnungsstruktur im Verstand

Offenkundig gibt es bis heute keine einheitliche und allgemein akzeptierte Auffassung darüber, was Zeit ist. Die Physik glaubt Raum und Zeit auf ihre Weise definieren zu können und verkennt dabei, dass Raum und Zeit notwendige Grundformen unseres Denkens und Erkennens sind. Als solche sind sie nicht Gegenstand, sondern  Voraussetzung jeder Naturwissenschaft.

Gehen wir davon aus, was heute akzeptiertes Lexikonwissen ist. Demnach beschreibt die Zeit die Abfolge von Ereignissen. Die Einteilung der Geschehnisse erfolgt

- nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ("Zeitmodus")

- nach früher, später und gleichzeitig ("Zeitordnung")

- nach unterschiedlicher Dauer, wobei mit Dauer die Abstände in der Aufeinanderfolge von Geschehnissen gemeint sind.

Daraus folgt, dass Zeit auf bestimmten Ordnungsprinzipien beruht. Diese sind offensichtlich eine Sache des Verstandes. Nur der Verstand befähigt uns, im jeweiligen Jetzt das Vergangene (im Gedächtnis) und das Zukünftige (in der Erwartung) zu unterscheiden. Nur der Verstand befähigt uns, in einer Reihe von Ereignissen zu unterscheiden, was früher, später oder gleichzeitig geschieht. Nur der Verstand befähigt uns, die Dauer zwischen Ereignissen zu vergleichen und mit Uhren zu messen.

Allein schon durch die Tatsache, dass sich die sichtbare Außenwelt ständig bewegt und verändert, wird der Verstand dazu veranlasst, ständig zwischen vorher, jetzt und nachher zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist die einfachste Form von Zeit. Sie wird mit den Begriffen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbunden.


4. Die Rolle der evolutionären Erkenntnistheorie

Von Natur aus ist uns die Vorstellung angeboren, dass die Zeit gleichmäßig verläuft und dass es nur eine Zeit gibt, die überall dieselbe ist. Dies stimmt mit Newtons Beschreibung der absoluten Zeit überein. Allerdings geht Newton davon aus, dass die absolute Zeit als ein reales Ding in der Außenwelt existiert.  

Von dem Biologen und Verhaltensforscher Konrad Lorenz stammt die Überlegung, dass auch die Entwicklung des Verstandes durch die Umwelt beeinflusst wird. Dadurch kommt es zu bestimmten Denk- und Erkenntnisformen, die uns angeboren sind. Auf diese Weise entsteht ein Bezug zwischen der realen Außenwelt und Immanuel Kants a priori gegebenen Verstandeskategorien. Aus genau denselben Gründen, aus denen der Huf des Pferdes zum Steppenboden und die Flosse des Fisches ins Wasser passt, passen die a priori gegebenen Denkkategorien zur Außenwelt (Konrad Lorenz: Kants Lehre vom Apriorischen im Lichte gegenwärtiger Biologie, 1941).

Doch mit der Überlegung, dass unsere angeborenen Denkformen genau so auf die Umwelt passen wie die Flosse des Fisches zum Wasser, ist nicht bewiesen, dass die Vorstellung der absoluten Zeit ein Abbild der Wirklichkeit ist. Zwar ist der Pferdehuf optimal an den Steppenboden angepasst, aber er ist kein Abbild des Steppenbodens im Sinne fotografischer oder spiegelbildlicher Wiedergabe. Mit diesem Argument wurden evolutionstheoretische Überlegungen zu Raum und Zeit schon vor Jahrzehnten durch die theoretische Physik zurückgewiesen. Unsere angeborenen Vorstellungen von Raum und Zeit, so das Argument der Physik, dienten dem Überleben, aber nicht der Wahrheit, was durch die Relativitätstheorie bewiesen sei.

Wer aus guten Gründen den Glauben an die Relativität der Zeit verwirft, kann mit dieser Auskunft nicht zufrieden sein, sondern wird weiterfragen. Auch wenn die Grundüberlegung der evolutionären Erkenntnistheorie kein Beweis dafür ist, dass die absolute Zeit ein direktes Abbild der Wirklichkeit darstellt, so führt sie uns doch zwangsläufig zu der Frage, wie die Vorstellung von absoluter Zeit in den Verstand gekommen ist.


5. Wie entsteht die absolute Zeit im Verstand?

Manche Sachverhalte versteht man erst, wenn man ihre Entstehungsgeschichte kennt. Zwar ist die Entstehung der Zeit nicht historisch überliefert, aber sie lässt sich plausibel rekonstruieren.

Seit dem frühesten Entwicklungsstadium der Menschheit macht das Individuum die Erfahrung des regelmäßigen Wechsels von Tag und Nacht. Dieser gleichmäßige Rhythmus führt dazu, die realen Geschehnisse in eine gleichmäßige Skala von Tagen einzuordnen. Bestimmte Ereignisse werden einem bestimmten Tag zugeordnet, und der Abstand (die Dauer) zwischen zwei Ereignissen kann in Tagen angegeben werden. Auf diese Weise entsteht im Lauf des Entwicklungsprozesses die Vorstellung von gleichmäßig verlaufender Zeit. Die Zeitskala ist zuerst in Tage eingeteilt, die in einen Kalender eingeordnet werden. Dieser wird wiederum mit dem Jahreslauf verbunden.

Hier liegt der Ursprung der Vorstellung, dass die Zeit gleichmäßig verläuft. Die abzählbaren Tage fließen dahin, aber zunächst tritt noch nicht in das Bewusstsein, dass der Tag eine Maßeinheit ist. Sondern als Merkmal eines Tages wird wahrgenommen, dass er mit bestimmten Ereignissen verbunden ist, zum Beispiel der Geburt eines Kindes oder dem Erscheinen eines Kometen. Die Abfolge der Ereignisse wird mit dem Fluss der Tage und schließlich mit dem Fluss der Zeit verbunden. 

Auch Martin Heidegger (1889-1976) führt die Zeitlichkeit auf den Lauf der Sonne zurück, woraus als natürliches Zeitmaß der Tag folgt ("Sein und Zeit", § 80).  Der ontologische Status der Zeit ist allerdings nicht das Hauptthema des Existenzphilosophen Heidegger. Die herkömmliche Vorstellung von dahinfließender Zeit stellt er nicht in Frage.

(Auch wenn Heideggers Philosophie des Seins vielen unverständlich bleibt, so leidet darunter nicht die Verständlichkeit seiner Ausführungen über die Zeit). 

Hinzu kommt eine zweite ursprüngliche Erfahrung, nämlich dass es nur eine Außenwelt gibt, in der das Individuum und alle anderen Individuen leben. Es gibt nur eine aus Tagen bestehende Zeitskala in dieser Welt, in der die Sonne überall im gleichen Tagesrhythmus am Zenit steht. Dies führt zu der Vorstellung, dass es nur eine Zeit gibt, die überall dieselbe ist. 

Zu der Vorstellung, dass es nur eine Zeit gibt, trägt auch die Beobachtung und  Erfahrung unserer frühen Vorfahren bei, dass die Gleichzeitigkeit von Ereignissen eine reale Tatsache ist.  Daraus folgt, dass der Augenblick, den ich mit Jetzt bezeichne, überall derselbe ist. Die selbstverständliche Erfahrung, dass die Gleichzeitigkeit von Ereignissen eine reale Tatsache ist, machen wir auch heute noch innerhalb unseres Gesichtskreises. Es gibt keinen Grund dafür, warum die reale Gleichzeitigkeit nicht auch über den Bereich hinaus gegeben sein sollte, den wir unmittelbar beobachten können.

Mit fortschreitender Entwicklung des Verstandes entsteht die Fähigkeit und das Bedürfnis, in kleineren Zeiteinheiten zu denken. Aus dem zunächst in Tage eingeteilte Kalender wird eine kleinteiligere Zeitskala durch die Unterscheidung des Sonnenstandes nach Morgen, Mittag und Abend. Später kommen Sonnenuhren hinzu, die es ermöglichen, den Tag in Stunden einzuteilen.

Am Beginn dieser hier skizzierten Entwicklung ordnet der Verstand jedes Ereignis einem bestimmten Tag zu. Der Zeitpunkt und damit die kleinste Einheit auf der Zeitskala ist ursprünglich ein Tag. Mit der in der weiteren Entwicklung folgenden Einteilung des Tages in Stunden, Minuten und Sekunden kann jedes Ereignis mit einem viel kleineren Zeitpunkt verbunden werden. Am Ende der Entwicklung, im gegenwärtigen wissenschaftlichen Zeitalter, steht die Erkenntnis, dass der Zeitpunkt beliebig klein gedacht werden kann. Daraus folgt als Konsequenz, die Konstruktion von immer noch genaueren Uhren anzustreben. Wobei die Genauigkeit der Uhr zwei Eigenschaften impliziert, nämlich den gleichmäßigen Gang und eine möglichst kleinteilige Zeitskala. Heute kann man mit Atomuhren Milliardstel Sekunden messen.


Zur Illustration:
Die Zeitskala ist am Beginn der Entwicklung ein Kalender, der in Tage eingeteilt ist. Reale Ereignisse werden einem bestimmten Tag zugeordnet. Der Abstand zwischen Ereignissen wird in Tagen benannt und gemessen. Die natürliche Zeiteinheit ist ein Tag.

|          |          |          |          |          |          |          |          |        Tage


Mit fortschreitender Entwicklung des Verstandes wird die Zeitskala kleinteiliger. Der Verstand denkt in Stunden, dann in Sekunden. Heute wissen wir, dass ein Zeitpunkt beliebig klein gedacht werden kann. Jedes beliebige Ereignis und jeden der ständig wechselnden Zustände der Welt verbinden wir - bewusst oder unbewusst - gedanklich mit einem Zeitpunkt.

.......................................................................................        Sekunden

Wissenschaft und Technik sind heute in der Lage, mit Milliardstel Sekunden zu messen und zu rechnen und entsprechend leistungsfähige Atomuhren zu bauen.

Der Lauf der Sonne führt nicht nur zum Wechsel von Tag und Nacht und auf diese Weise zu einer endlosen Zeitskala, auf der die Zeiteinheiten abgezählt werden. Sondern der Stand der Sonne zeigt Morgen, Mittag und Abend an. Dies ist der Ursprung der Uhrzeit, die zunächst nur ungenau von  Sonnenuhren abgelesen wurde. Die aktuelle Uhrzeit bezeichnet einen bestimmten Zeitpunkt auf der Zeitskala, nämlich die jeweilige Gegenwart.  


6. Stimmt die absolute Zeit mit der Wirklichkeit überein?

Die uns angeborene Vorstellung von absoluter Zeit besteht darin, dass die Zeit gleichmäßig verläuft und dass es nur eine Zeit gibt. Stimmt diese Vorstellung mit der Wirklichkeit überein? 

Falls die Frage auf Newtons Beschreibung der absoluten Zeit abzielt, so ist sie in zweifacher Hinsicht mit "Nein" zu beantworten. Denn zum einen existiert die Zeit nicht wie ein Ding in der Außenwelt, sondern nur im Verstand. Außerhalb des Verstandes gibt es keine Zeit. Zum anderen verläuft die Zeit nicht, sondern ist der  Maßstab, an dem wir vorher, jetzt und nachher unterscheiden und an dem wir die Dauer zwischen Ereignissen und Veränderungen messen. Die Zeit ist das Maß für die Zeitrelationen.

Aber es trifft zu, dass es nur eine Zeit gibt, die überall dieselbe ist. Dies folgt aus der absoluten Gleichzeitigkeit. Jeder Augenblick, den ich mit "Jetzt" bezeichne, ist überall derselbe. Wenn jeder Augenblick überall derselbe ist, dann gibt es nur eine Zeit. 

(Dass Einstein die Gleichzeitigkeit nach den  subjektiven Sinneseindrücken unterschiedlicher Beobachter definiert und nur auf diese Weise relativiert, wird von der Wissenschaft ignoriert. Der mathematische Teil von Einsteins Theorie zeigt mit dem sog. Lorentzfaktor nur das Maß der per Definition bereits vorausgesetzten Relativität auf. In der Tradition von Immanuel Kant stehende Philosophen haben die Relativitätstheorie seit jeher abgelehnt, weil die Zeit als notwendige Denk- und Erkenntniskategorie nicht relativ sein kann. Aber die Physik denkt nicht philosophisch, weshalb Philosophie und Physik oft aneinander vorbei reden.)
 

Die Unterscheidung zwischen dem Ordnungs- und Maßsystem Zeit einerseits und den zu messenden Zeitrelationen andererseits beruht auf der Unterscheidung von Innen- und Außenwelt.

Außenwelt:
In der Außenwelt gibt es die Abstände in der Aufeinanderfolge von Ereignissen ("Zeitrelationen")
entweder als Dauer zwischen Ereignissen,
oder als Gleichzeitigkeit von Ereignissen.

Die unterschiedlichen Relationen, nämlich Dauer und Gleichzeitigkeit, bezeichnen reale Tatsachen (keine realen Dinge, aber reale Sachverhalte) in der realen Welt.

Innenwelt:
Im Verstand gibt es die Zeit als Ordnungsstruktur und Maß für die Relationen der realen Außenwelt, wodurch wir entweder die Dauer zwischen zwei Ereignissen oder ihre Gleichzeitigkeit (als fehlende Dauer) erkennen.


Die Außenwelt weist Strukturen auf, auf deren Grundlage Raum und Zeit im Verstand entstehen. Die für den Raum grundlegende Struktur der Welt besteht im Nebeneinander der Dinge sowie in ihren Abständen und Größen. Die für die Zeit grundlegende Struktur der Welt besteht im Nacheinander der Veränderungen. Weil sich das Nacheinander der Veränderungen in der Außenwelt abspielt, haben wir die natürliche Neigung, die Zeit als eine Eigenschaft der Welt aufzufassen, anstatt sie als Ordnungsstruktur des Verstandes zu erkennen.

Dass es nur eine Welt und folglich nur eine Zeit gibt, ist zunächst eine ursprüngliche Erfahrung in einem frühen Entwicklungsstadium des Verstandes (siehe Nr. 5 - wie entsteht die Zeit im Verstand). Diese Erfahrung allein mag manchen nicht als Beweis für die absolute Gleichzeitigkeit gelten. Der Beweis liegt auf einer anderen Ebene. Die physikalische (materielle) Welt als Ganzes befindet sich in jedem Augenblick in einem bestimmten Zustand. Der Zustand der Welt ändert sich von Augenblick zu Augenblick durch unzählige Geschehnisse und Veränderungen von atomarer bis kosmischer Größenordnung. Wenn die Welt in jedem Augenblick in einem bestimmten Zustand ist, dann ist jeder Augenblick überall derselbe. Es gibt nur eine Welt, folglich nur eine reale Gleichzeitigkeit, die in der ganzen Welt dieselbe ist.  Wäre dies nicht der Fall, so würde die materielle Welt als Ganzes nicht gleichzeitig existieren.

Dieser Gedanke wird keineswegs dadurch widerlegt, dass wir Menschen nicht in der Lage sind, die Welt als Ganzes zu beobachten und zu beschreiben. Nicht die Erfahrung, sondern die Verstandeslogik  befähigt uns zu der Einsicht, dass die Welt ein Ganzes ist, dessen Zustand sich ständig ändert. Der Einwand, dass in der Wissenschaft nur zählt was wir beobachten und messen können, ist lediglich der Nachhall eines obsoleten Positivismus aus dem 19. Jahrhundert. Das längst widerlegte Leitmotiv dieser Denkweise lautete: die Beobachtung ist unsere einzige Wirklichkeit. 



7. Vorläufiges Ergebnis - Was ist die Zeit?

In der äußeren Wirklichkeit gibt es die realen Dinge, die sich verändern und bewegen. Alles ist in ständiger Veränderung, von den Schwingungen der Atome, über die Bewegungen in alltäglicher Größenordnung, bis zur Bewegung der Galaxien. Alles fließt, weshalb man nicht zweimal in den selben Fluss steigen kann, wie Heraklit gesagt hat. Als biologisches Individuum und als Person bleibt der Mensch identisch für die Dauer seines Lebens. Doch materiell ist er ein Teil der sich ständig verändernden Welt. Materiell bin ich heute ein Anderer als gestern, weil sich meine Körperzellen ständig erneuern, doch als biologisches und geistiges Individuum bin ich derselbe.

Die Zeit ist der uns angeborene Maßstab, an dem wir die Geschehnisse ordnen und messen
- nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
- nach früher, später und gleichzeitig
- nach unterschiedlicher Dauer.

Die einfachen Unterscheidungen nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sowie nach früher, später und gleichzeitig erfolgen durch die Verstandeslogik bzw. aufgrund der Erinnerung (des Gedächtnisses) und der Erwartung (im Sinne von geplanter Vorausschau). Die exakte Unterscheidung nach kurzer oder langer Dauer bedarf eines Maßstabs. Deshalb ist Zeit das Maß der Dauer.

An der Dauer eines bestimmten Vorgangs messen wir auch die Geschwindigkeit des Vorgangs. Daher ist die Zeit nicht nur das Maß der Dauer, sondern auch der Geschwindigkeit. Ein Beispiel dafür ist die Geschwindigkeit, mit der eine bestimmte Strecke zurückgelegt wird. Nehmen wir einen 100-Meter-Läufer. Zwischen dem Start (Ereignis 1) und der Ankunft auf der Ziellinie (Ereignis 2) liegt  eine Dauer, die mit 10 Sekunden gemessen wird.  Aus der Zahl der Sekunden können wir die Geschwindigkeit des Läufers berechnen nach der Formel v = s/t.  (Geschwindigkeit = Strecke je Zeiteinheit).  Aber auch die Geschwindigkeit physikalischer Vorgänge, chemischer Reaktionen und biologischer Prozesse wird an der Zeit gemessen. Der Begriff "Geschwindigkeit" setzt die Zeit voraus und ist ohne Zeit sinnleer.

Weil wir gedanklich jedes der unzähligen aufeinander folgenden Ereignisse in der Welt mit einem Zeitpunkt auf der Zeitskala verbinden, sprechen wir irrtümlich davon, dass die Zeit fließt. Doch wir täuschen uns. Nicht die Zeit verläuft, denn sie ist ein abstrakter Maßstab im Verstand, vergleichbar einem Meterstab. Sondern die Geschehnisse bilden einen Verlauf. Was wir als dahinfließend beobachten, sind die realen Geschehnisse und Veränderungen der Außenwelt. In Unkenntnis dessen, was genau Zeit ist - die angeborene Denkkategorie Zeit ist uns unbewusst -  bezeichnen wir seit jeher den Fluss der Geschehnisse unzutreffend als Fluss der Zeit.

Der britisch-australische Philosoph John J. C. Smart schreibt in "The River of Time" (1949): "Selbst die unkritischste Person wird vermuten, dass wir, wenn wir von der Zeit als einem fließenden Fluss reden, in einer irgendwie illegitimen Weise reden. Die Zeit ein Fluss, sagen wir zu uns selbst, ein komischer Fluss ist das. Aus was für einer Flüssigkeit besteht er? ... Wir sind sogar noch stärker beunruhigt, wenn wir uns fragen, wie schnell dieser Fluss fließt."

Schon Immanuel Kant hat die Vorstellung der dahinfließenden Zeit verworfen: "Wollte man der Zeit selbst eine Folge nacheinander beilegen, so müsste man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge möglich wäre." (Kritik der reinen Vernunft). Damit bekräftigt Kant, dass wir jede Abfolge, jedes Nacheinander nur anhand der Verstandeskategorie "Zeit" erkennen und beschreiben können. Allerdings steht der zitierte Satz nicht in Kants grundlegenden Ausführungen über Raum und Zeit, sondern erst im zweiten Teil der "transzendentalen Elementarlehre". Aus diesem Grund ist diese Aussage des großen Philosophen nur wenig bekannt. Möglicherweise schien seinen Schülern und Interpreten der Satz, wonach die Zeit nicht verläuft, derart befremdlich und mit der gängigen Vorstellung unvereinbar, dass sie darüber hinweggelesen haben. In der Tat bedarf es einer bewussten Anstrengung, unsere spontane  Vorstellung vom Verlauf der Zeit durch den Gedanken zu ersetzen, dass die Zeit nicht verläuft, sondern das feststehende Maß für den Verlauf der realen Vorgänge in der Außenwelt ist.        

Die Frage, mit welcher Geschwindigkeit die Zeit fließt, geht ins Leere. Die Zeit fließt nicht. Außerdem ist Geschwindigkeit das mathematische Ergebnis aus Veränderung und Zeit, zum Beispiel aus zurückgelegter Strecke je Sekunde. Die Berechnung einer Geschwindigkeit setzt also die Zeit bereits voraus, weshalb die Zeit selbst keine Geschwindigkeit hat. Überdies hängt die Größe jeder Geschwindigkeit vom gewählten Bezugssystem ab. Es gibt aber kein Bezugssystem, an dem die Geschwindigkeit der Zeit gemessen werden könnte, sondern die Zeit selbst ist das Bezugssystem. 

Es führt auch nicht weiter, wenn wir die Frage in andere Worte fassen: Mit welcher Geschwindigkeit schreitet das Jetzt auf der Zeitskala voran? Denken und Tun geschehen in der Gegenwart, nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft. Psychologen haben herausgefunden, dass unsere gefühlte Gegenwart etwa drei Sekunden beträgt. Nach Ablauf dieser drei Sekunden wird die Gegenwart zur Vergangenheit, und wir denken und handeln in einer neuen Gegenwart. Aus psychologischer Sicht schreitet also die Gegenwart im Drei-Sekunden-Takt voran.

Nicht die Zeit vergeht, sondern jeder gegenwärtige Zustand der Welt vergeht, weil der Zustand der Welt im nächsten Augenblick ein anderer ist. Aber weil unser Verstand selbständig und ohne dass uns dies bewusst ist, jeden Zustand der Welt mit einem Zeitpunkt auf der Zeitskala verbindet, sagen und denken wir, dass die Zeit vergeht.

Das vermeintliche Vergehen der Zeit ist die Hauptursache dafür, dass die Zeit bis heute letztlich als ein ungelöstes Rätsel gilt, das zu Widersprüchen und Zirkelschlüssen führt. Die Zeit vergeht und ist doch irgendwie ständig vorhanden. Reale Existenz scheint nur in der Zeit möglich, ohne dass man sagen könnte, was die Zeit ist.

Weil uns die Zeit als angeborene Denk- und Erkenntnisstruktur unbewusst ist, haben die Menschen von Natur aus keine genaue Vorstellung davon, was Zeit ist. Dadurch kommt es zu Irrtümern und unzutreffenden Theorien über die Zeit:  Die Zeit als ein Ding wie andere reale Dinge (Newton). Die Zeit als Eigenschaft der Dinge und der Welt (Relationismus). Mit unterschiedlicher Geschwindigkeit verlaufende Zeiten (Relativitätstheorie). Die Identität von Raum und Zeit (Raumzeit von Hermann Minkowski). Die Zeit als Illusion (Einstein in späten Jahren).

Dagegen sagt die hier vorgelegte neue Theorie:

Zeit ist ein abstraktes Ordnungssystem im Verstand. Am Maßstab der Zeit ordnen und messen wir den Verlauf der Veränderungen der Außenwelt.

Nicht die Zeit verläuft, sondern die Geschehnisse bilden einen Verlauf

Dauer ist keine Zeit, sondern eine Relation zwischen Ereignissen.

Die Zeit ist das Maß der Relationen, d. h. die Größe oder "Länge" einer Dauer messen wir am Maßstab der Zeit.

Die Existenz von Dingen ist nicht mit Zeit, sondern mit Dauer verbunden. Weil wir aber eine Dauer in Zeiteinheiten (Sekunden) ausdrücken, wurde bisher begrifflich zwischen Dauer und Zeit kein Unterschied gemacht. Newton setzt sogar ausdrücklich beides gleich, indem er sagt, dass Dauer nur ein anderes Wort für Zeit ist.  

Geht es also nur um einen geänderten Gebrauch von Begriffen? Keineswegs. Es geht um den ontologischen Status der Zeit. Was ist Zeit?  Die Zeit ist kein selbständig existierendes Ding. Sie ist keine Eigenschaft der Welt und keine Relation zwischen den Dingen. Zeit ist ein abstraktes Ordnungssystem im Verstand. Außerhalb des Verstandes gibt es nichts, was man als Zeit bezeichnen kann.

Zeitmodus und Zeitordnung (Nr. 3) beruhen auf Leistungen des Gedächtnisses. Die Vorstellung von gleichmäßig verlaufender Zeit ist ursprünglich durch den Wechsel von Tag und Nacht entstanden. Es gibt nur eine Zeit, weil es nur eine Welt gibt.


8. Die Zeit ist objektiv, auch wenn es sie nur im Verstand gibt

Martin Heidegger erörtert in "Sein und Zeit" auch die Frage,  inwieweit die Zeit subjektiv und inwieweit sie objektiv ist. Die Frage stellt sich in Bezug auf die hier vorgestellte Theorie nicht. Diese meint ausdrücklich die objektive, als Maßeinheit definierte und auch als physikalisch bezeichnete Zeit, nicht aber die subjektiven Aspekte von Zeit z. B. im psychologischen oder existenzphilosophischen Kontext.

Nur am selben Ort beobachten die Menschen dieselben Ereignisse. An anderen Orten haben die Menschen andere Ereignisse im Blickfeld. Die Sonne geht in unterschiedlichen Gegenden der Welt zu unterschiedlichen Zeiten auf und unter. Doch daraus kann nicht gefolgert werden, dass die Zeit subjektiv wäre. Dazu sei hier noch einmal an folgende Gesichtspunkte erinnert:

- Maßeinheiten wie zum Beispiel Sekunden sind stets objektive Größen, auf die man sich einigt. Die Wahl der Maßeinheit ist eine Frage der Konvention. Die Sekunde geht auf die historische Einteilung des Sonnentages zurück. Heute ist die Sekunde exakt definiert auf der Grundlage bestimmter Schwingungszustände des Caesium 133-Atoms.

- Die Zeit ist objektiv, weil im Verstand eines jeden Menschen von Natur aus dieselbe Vorstellung der einen, gleichmäßig verlaufenden Zeit gegeben ist. Die Ursache dafür liegt in der Prägung des Verstandes durch die Evolution. Die evolutionären Bedingungen für die Entstehung der Zeit, vor allem in Form des Wechsels von Tag und Nacht,  waren überall auf der Erde dieselben. Für den Verstand gibt es von Natur aus nur eine Welt und daher nur eine Gegenwart.

- Wenn der Zeitpunkt, den ich mit "Jetzt" bezeichne, überall derselbe ist, so ist Gleichzeitigkeit nicht nur objektiv, sondern absolut. Das gemeinsame Jetzt, mit dem wir alle den augenblicklichen Zustand der Welt bezeichnen, ist eine logische Verstandesgewissheit.

- Daneben wird der Bezug zwischen Verstand und Außenwelt auch hergestellt durch die Zeit als Maß der Dauer. Mit Hilfe der Zeit ordnen wir die Aufeinanderfolge der Geschehnisse nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zählen wir den Verlauf der Geschehnisse nach Tagen, Stunden und Sekunden.

- Das Einordnen historischer Ereignisse in den Kalender kann als Erweiterung der Zeitskala in die Vergangenheit gesehen werden. Ereignisse, die in der Erinnerung des Einzelnen längst verblasst sind oder sich vor unserer Geburt ereignet haben, werden durch die Historiker in den Kalender eingeordnet und auf diese Weise in  einem kollektiven Gedächtnis festgehalten. Dass unterschiedliche Kalender verwendet wurden und werden, ist ohne Belang. Die Komputistik (wissenschaftliche Kalenderkunde) befasst sich u.a. mit der Umrechnung von kalendarischen Daten.


9. Was ist eine Uhr?

Um die Dauer zwischen zwei Ereignissen (oder den Abstand zwischen zwei Zeitpunkten) zu messen, benötigen wir als Werkzeug eine Uhr. Aus der Physik wissen wir, dass jeder gleichmäßig verlaufende oder sich in gleichmäßigen Perioden wiederholende physikalische Vorgang als Uhr geeignet ist. Beispiele dafür sind die Sanduhr, die Schwingungen eines Pendels, die Erdrotation, die zum Wechsel von Tag und Nacht führt. Wobei das Wort "Zeitmessung" nicht eigentlich zutrifft, denn was wir messen, ist eine Dauer. Der Maßstab für die Dauer ist die Zeit. Man kann die gebräuchlichen  Uhren als Messgeräte bezeichnen, die gleichmäßige Zeiteinheiten - zum Beispiel Sekunden - zählen. Die Anzahl der Sekunden zwischen zwei Ereignissen sagt uns, welche Dauer zwischen zwei Ereignissen (oder Zeitpunkten) liegt.

Schon Newton traf die Unterscheidung zwischen der absoluten, gleichmäßig verlaufenden Zeit und der mit Uhren gemessenen relativen Zeit. Relativ, weil keine Uhr vollkommen gleichmäßig geht. Newtons Hoffnung richtete sich darauf, dass der Fortschritt von Wissenschaft und Technik gleichmäßig gehende Uhren ermöglichen werde. Diese Hoffnung wurde durch die modernen Atomuhren weitgehend erfüllt. Allerdings können Atomuhren, auch wenn man Störungen beispielsweise durch wechselnde Temperatur oder Schwerkraft weitgehend ausschließt, im Lauf von einer Millionen Jahren theoretisch immer noch um eine Sekunde vom gleichmäßigen Gang abweichen.

Die übliche Uhr besteht aus einem festen Zifferblatt mit der Zeitskala und aus einem gleichmäßig voranschreitenden Zeiger, der die abgezählten Sekunden auf der Skala anzeigt. (Der Einfachheit halber gehe ich von einer Uhr mit Sekundenzeiger aus). Wenn die Skala nicht geradlinig ist, sondern die Form eines runden Zifferblatts hat, so hat das lediglich technische Gründe. Ein gleichmäßig rotierender Zeigerantrieb lässt sich einfacher realisieren als ein linear bewegter Zeiger. Da außerdem die Länge einer linearen Skala technisch begrenzt ist, müsste der am Ende der Skala angelangte Zeiger ohne Verzögerung auf den Anfang zurückspringen. Dagegen gelangt bei einem runden Zifferblatt der Zeiger nach jeder Umdrehung automatisch wieder zu einem mit "Null" bezeichneten Punkt auf der endlosen Zeitskala. - Mit der Einführung elektronischer Bauteile werden Zeiger und Skala häufig durch eine digitale Anzeige der gezählten Zeiteinheiten (z.B. Sekunden) ersetzt.

Der Physiker, Zeitphilosoph und Newton-Interpret Ed Dellian schreibt Uhren ohne Zifferblatt und Zeiger einer Zivilisation zu, die ihr Weltbild unkritisch gläubig von den Dogmen der modernen Physik her bezieht. Erst die Skalierung macht das Zifferblatt zu einem Maßstab. "Also ohne Zifferblatt...auch keine wirkliche Uhr." (Dellian: Isaac Newton über absolute und relative Zeit - ein aktueller Beitrag zur Lösung des Zeiträtsels. Im Internet unter neutonus-reformatus.de). 

Während in den frühesten Kulturen die Zeit nach Tagen im Kalender abgezählt wurde, macht heute die Uhr im Prinzip dasselbe auf einer kleinteiligeren Skala mit Sekunden und Bruchteilen von Sekunden. An der Uhr wird die Zeit sichtbar. Die Skala auf dem Zifferblatt steht für den Zeitmaßstab. Der gleichmäßig laufende Zeiger generiert gleichmäßige Sekunden und zählt sie auf dem Maßstab ab.

Auch ein Grundgedanke der vorliegenden Zeittheorie wird durch die Uhr anschaulich. Wir glauben am Sekundenzeiger den Lauf der Zeit zu beobachten. Doch dies ist ein Irrtum. Die Zeit wird dargestellt durch das Zifferblatt mit der festen Zeitskala. Die Zeit ist ein Ordnungssystem, das nicht fließt. Was sich bewegt, ist der Zeiger. Er ist Symbol und zugleich Bestandteil der materiellen Welt, die ständig im Fluss ist. Bei jeder Stellung des Zeigers ist die Welt in einem bestimmten Zustand. Auch der Zeiger selbst ist ein Teil der Welt, die sich von Sekunde zu Sekunde verändert. - An Uhren mit anderem technischen Design, zum Beispiel wenn sich das Zifferblatt statt des Zeigers dreht oder bei Uhren mit digitaler Anzeige, wird diese Symbolik nicht sichtbar.

Die Uhr liefert auch einen Beweis dafür, dass die Zeit mit ihrer Unterscheidung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht etwa eine Illusion ist (wie manche Relativisten in Anlehnung an eine ursprünglich von Einstein stammende Idee glauben), sondern dass die reale Welt tatsächlich nach  Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu unterscheiden ist. Ein vergangener Zustand der Welt existiert nicht mehr real, sondern nur in unserer Erinnerung. Aus diesem Grund können wir mit der Uhr nur von der realen Gegenwart in eine Zukunft messen, welche am Ende des Messvorgangs reale Gegenwart ist. Dagegen kann die Uhr nicht rückwärts in die Vergangenheit messen, weil vergangene Ereignisse nicht mehr real existieren.

Eine gemessene Dauer hängt auch von der Genauigkeit der Uhr ab. Nicht aber hängt die Zeit als abstraktes Ordnungssystem vom Gang der Uhr ab. Wenn die Uhr ungleichmäßig geht, so korrigieren wir die Uhr, nicht die Zeit.


10. Die Uhrzeit

Häufiger als zur sogenannten Zeitmessung werden Uhren im Alltag für einen anderen Zweck verwendet. Schon in der Antike verwendete man Sonnenuhren, um eine gemeinsame Zeit zu verabreden. Die moderne Zivilisation funktioniert nur mit einheitlichen Terminen, zum Beispiel um Fahrpläne zu erstellen, den Arbeits- und Schulbeginn und andere Termine festzulegen. Zu diesem Zweck werden Zeitzonen mit einheitlicher Zeit festgelegt. Eine Referenzuhr gibt die Uhrzeit für die gesamte Zeitzone an, und wer Termine einhalten oder die Eisenbahn nicht versäumen will, der richtet seine Uhr nach der Referenzuhr, das heißt nach der für die Zeitzone festgelegten Uhrzeit.  Die für alle verbindliche Uhrzeit hat also eine wichtige soziale und technische Funktion. Sie bestimmt den Takt für den Arbeitsrhythmus der Gesellschaft und ihrer Mitglieder.

Das Wesen bzw. der ontologische Status der Uhrzeit ist weitgehend unbestritten. Im Gegensatz zu der aus dem Zusammenspiel von Tag-Nacht-Wechsel und Evolution entstandenen natürlichen Zeit ist die Uhrzeit eine technisch-zivilisatorische Errungenschaft. Die Uhrzeit hat den Zweck, innerhalb einer räumlich definierten Zeitzone den Tag mithilfe von Uhren einzuteilen. Ursprüngliche Uhr war die Sonne, dann verwendete man Sonnenuhren.  Erst mit der Erfindung hinreichend genau gehender mechanischer Uhren konnte jeder Zeitpunkt eines Tages mit einer exakten Uhrzeit benannt werden.
Die Uhrzeit ist auf Uhren angewiesen, weil sie durch Uhren generiert wird.  

Schon vor Jahrzehnten hat man sich auf eine wissenschaftlich-technische Weltzeit (WZ) geeinigt, die auch bekannt ist als Greenwich Mean Time (GTM) oder Universal Time (UT), wobei wir an dieser Stelle nicht eingehen müssen auf astronomische Unterschiede zwischen Sonnen- und Sternentagen oder tropischem, gregorianischem und siderischem Jahr. Die Weltzeit in diesem Sinne ist eine technische Uhrzeit. Sie ist Bezugszeit für die anderen gebräuchlichen Zeitzonen, die rund um den Globus eingerichtet wurden und umfasst auch die durch die Raumfahrt bisher erschließbaren Bereiche.

In der Natur gibt es keine Uhrzeit. Es gibt gleichmäßig verlaufende physikalische Vorgänge wie die Erdrotation oder die Schwingungen von Atomen oder Pendeln. Aber gleichmäßige physikalische Vorgänge sind keine Zeit. Sie sind auch keine Uhrzeit, sondern als Uhren verwendbar. Die ursprüngliche Uhr ist der Lauf der Sonne. Die Uhrzeit beruht auf Konvention und gesetzlicher Vorschrift und regelt in erster Linie das soziale Zusammenleben und das Funktionieren der technischen Zivilisation.

Der natürliche Wechsel von Tag und Nacht ist keine Zeit, sondern verursacht die Zeit, die ausschließlich eine Sache des Verstandes ist. Dass es die Zeit in der Natur gibt, könnte man nur in dem Sinne sagen, dass auch der Verstand ein Teil der Natur ist. Jedoch ist die Unterscheidung zwischen Natur und Verstand im Sinne von Außenwelt und Innenwelt eine Vorbedingung für die Gewinnung des Zeitbegriffs. (Anmerkung: Im Sinne der Evolution wird die Zeit als Verstandeskategorie durch eine Uhr, nämlich den Lauf der Sonne, generiert. Unzutreffend ist aber der Standpunkt der theoretischen Physik seit Einstein, Zeit werde durch Uhren generiert.)   



11. Schluss

Das Gleichmaß der Zeit wird herkömmlich beschrieben als gleichmäßig verlaufende Zeit. Die absolute Gleichzeitigkeit wird beschrieben als die eine Zeit, die überall dieselbe ist. Beide Vorstellungen von Zeit sind uns in Form dieser herkömmlichen Beschreibung angeboren. Die gleichmäßige, universelle Zeit ist neben dem Raum eine notwendige Grundform unserer Anschauung, ist Grundlage von Denken und Erkennen, wie Immanuel Kant lehrte.

Der Unterschied zwischen der Zeit als Maß der Dauer und der absoluten Gleichzeitigkeit folgt aus ihren unterschiedlichen Grundlagen. Die abgezählte Zeit misst das Nacheinander der Dinge und Ereignisse. Die absolute Gleichzeitigkeit beruht auf dem Nebeneinander, welches zu einem bestimmten Zeitpunkt besteht.

Denkbar wäre, die absolute Gleichzeitigkeit auch als Weltzeit zu bezeichnen, um sie von der abgezählten Zeit zu unterscheiden. Weltzeit würde dann bedeuten, dass die Zeit keiner räumlichen Begrenzung unterliegt, sondern dass jeder Zeitpunkt überall derselbe ist.  Allerdings wird die einheitliche Uhrzeit bereits als Weltzeit bezeichnet. Auch ist der Begriff der Weltzeit in anderen Zeittheorien schon mit anderen Bedeutungen besetzt. Überdies konnten erst mit der Relativitätstheorie Einsteins - weil sie Beobachtung und Wirklichkeit gleichsetzt - Zweifel daran aufkommen,  dass in jedem Augenblick, den ich mit "Jetzt" bezeichne, überall in der Welt gleichzeitige Ereignisse stattfinden, unabhängig davon ob ich sie beobachten kann oder überhaupt jemals Kenntnis von ihnen erhalte. 

Unser Ausgangspunkt war die Frage, was die objektive, physikalische Zeit ist. Am Ende stellen wir fest, dass der Begriff der objektiven Zeit unterschiedliche Aspekte aufweist.

Die Zeit ist ihrer Natur nach das Maß für Dauer und Geschwindigkeit materieller Vorgänge oder Veränderungen. Sie ist uns ursprünglich als Vorstellung von gleichmäßig verlaufender Zeit angeboren und wird bestätigt durch die Verwendung der Sekunde als physikalische Maßeinheit. Die Vorstellung vom Verlauf der Zeit trifft jedoch nicht zu. Nicht der Zeitmaßstab verläuft, sondern die Veränderungen und Ereignisse der Welt bilden einen Verlauf, den wir am Maßstab der Zeit messen. 

Ein zweiter Aspekt ist die absolute Gleichzeitigkeit. Die Gewissheit ist uns angeboren, dass jeder Zeitpunkt überall derselbe ist. Sie wird bestätigt durch den reflexiven Bezug auf die Welt als Ganzes, die in jedem Augenblick in einen bestimmten Zustand ist. Das "Jetzt" ist räumlich nicht begrenzt. Wenn jeder Zeitpunkt, den ich mit "Jetzt" bezeichne, überall derselbe ist, so gibt es nur eine Zeit.

Drittens ist die Uhrzeit gegenüber dem Zeitbegriff abzugrenzen. Die Uhrzeit kommt in der Natur nicht vor, sondern ist eine technische und soziale Einrichtung, die durch Konvention und Gesetz festgelegt wird. Sie ermöglicht das Funktionieren der technischen Zivilisation und regelt in erster Linie das soziale Zusammenleben, findet aber auch in der Wissenschaft Anwendung.

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