Donnerstag, 22. August 2024

Theorien über die physikalische Zeit

 A. Relativistische Theorien 

1. Der Zeitbegriff in Einsteins spezieller Relativitätstheorie von 1905 kann wie folgt beschrieben werden:

"Zeit ist das, was wir von der Uhr ablesen. Zeit ist relativ, weil mit unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegte Uhren unterschiedlich gehen."

Dabei ignoriert man, dass Einstein in seinem Text von 1905 zunächst anhand von Gedankenexperimenten ausführlich beschreibt, warum Zeit und Gleichzeitigkeit relativ sind. Beobachter lesen von unterschiedlich bewegten Uhren unterschiedliche Zeiten ab, weil die Lichtlaufzeiten zwischen Uhr und Beobachter wechseln. Aus demselben Grund wird ein bestimmtes Ereignis von unterschiedlich bewegten Beobachtern zu unterschiedlichen Zeiten wahrgenommen. Damit ist aber die Relativität ein leicht erklärbarer Scheineffekt. Zeitreisen, Zwillingsparadoxon und damit die ganze Theorie sind hinfällig. 

Statt dessen glaubt man irrtümlich, die Relativität sei real, weil mathematisch bewiesen. In § 3 seines Textes legt Einstein aber nur dar, nach welcher mathematischen Regel sich die von ihm bereits vorausgehend  definierte Relativität richtet. Es ist der sogenannte Lorentz-Faktor. Einstein verzichtet bei diesen mathematischen Darlegungen auf Beobachter, indem er mit zwei unterschiedlich bewegten Koordinatensystemen arbeitet. Stillschweigend erhält eines der beiden Koordinatensysteme die Rolle des Beobachters zugewiesen. Daher ist der Glaube verbreitet, die Relativität habe nichts mit der Lichtlaufzeit zwischen Objekt und Beobachter zu tun, sondern sei ein mathematisch bewiesener realer Effekt.

Dass Einstein die Relativität der Zeit als realen Effekt auffasst, hat noch einen weiteren Grund, den er in seinem Text nicht erwähnt. Der junge Einstein war stark beeinflusst von der Erkenntnistheorie des Physikers und Philosophen Ernst Mach (1838 - 1916). Dieser vertrat eine besondere Ausprägung der positivistischen Erkenntnistheorie, nämlich den Sensualismus (damals bekannt als "Empiriokritizismus").   Dessen Motto lautet: "Die Beobachtung ist unsere einzige Wirklichkeit." Deshalb war für Einstein, jedenfalls im Jahr 1905, klar: Die relative Zeit ist ein wirklicher Effekt, und Zeitreisen sind möglich. - Das mag uns heute als naiv erscheinen, und tatsächlich gilt diese Erkenntnistheorie längst als überholt. Aber nicht nur Einstein, sondern große Teile der damaligen Wissenschaft nahmen den Sensualismus ernst. Für Ernst Mach, damals eine erstrangige wissenschaftliche Autorität, erscheint ein ins Wasser getauchter Stab nicht gekrümmt, sondern er ist gekrümmt.

 

2. Die Raumzeit

Der in Göttingen lehrende Mathematiker Hermann Minkowski (1864 -1909) hatte die Idee, die Effekte aus Einsteins spezieller  Relativitätstheorie in Raum-Zeit-Diagrammen darzustellen. Damit verknüpfte er den Gedanken, dass Raum und Zeit identisch und miteinander austauschbar seien. Damit war die Raumzeit geboren. Jedoch ist diese Verwechslung von Mathematik und Wirklichkeit weder physikalisch noch philosophisch begründet.  Auf  Betreiben von Max Planck wurde  die Raumzeit zum Bestandteil der Relativitätstheorie erklärt. Siehe hierzu meinen Artikel "Kritik der Raumzeit" vom 13. März 2011.

Der Begriff "Raumzeit" wurde bereits 1901 durch den Philosophen Melchior Palagyi verwendet, allerdings nicht im Zusammenhang mit der Relativitätstheorie. Interessant ist sein Kommentar zur Minkowski-Raumzeit: "Mathematik  schützt vor Torheit nicht". 


3. Die Zeit im Mainstream der heutigen Physik

Nach Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie wird die Raumzeit durch Gravitation gekrümmt. Für diese rätselhafte Wechselwirkung zwischen Materie, Raum und Zeit gibt es keine physikalische Erklärung. Die relativistische Physik beschreibt zwar bestimmte mathematische Eigenheiten von Raum, Zeit und Raumzeit, aber sie kann nicht erklären, was Raum und Zeit ihrer Natur nach sind. Glaubt man einigen Autoren, dann sind Raum und Zeit heute die großen Rätsel der Physik.

Angesichts dieser Ratlosigkeit greifen einzelne Theoretiker zu dem Strohhalm, zu dem schon Einstein in seinen letzten Lebensjahren gegriffen hat, als ihn berechtigte Zweifel an seinen eigenen Theorien plagten: Die Zeit sei eine Illusion, die uns der Verstand vorspiegelt.


B. Die Alternative

Mit der Relativität hat sich die Physik seit mehr als hundert Jahren auf unrealistische mathematische Gedankenspiele eingelassen. Der Ausweg wäre ein Experiment zur Widerlegung des Prinzips der konstanten Lichtgeschwindigkeit und damit zur Widerlegung der Relativitätstheorie. Die Grundzüge einer neuen realistischen Theorie über Raum und Zeit liegen auf dem Tisch. Sie stützt sich auf Immanuel Kants Lehre von Raum und Zeit sowie auf den Sachverhalt, dass unser Verstand im Lauf der evolutionären Entwicklung durch die Umwelt geprägt wurde. Dadurch erhalten Kants apriorische Kategorien einen Bezug zur äußeren Wirklichkeit.  

1. Raum und Zeit sind keine physikalischen Gegenstände, sondern unserem Verstand angeborene Ordnungssysteme, die im Verlauf der Evolution entstanden sind. 

Der Verstand befähigt uns zu unterscheiden, was vorher/jetzt/nachher geschieht, und er befähigt uns, Zeiteinheiten als Maß anzuwenden.

Der Verstand projiziert ein geradlinig dreidimensionales Koordinatensystem auf die Außenwelt. Mit Hilfe des dreidimensionalen Raumes  erkennen wir die Größen, Abstände, Positionen und Formen der realen Dinge. 

2. Nicht die Zeit fließt dahin (wie es unserem Sprachgebrauch und der angeborenen Vorstellung entspricht), sondern die Welt verändert sich laufend. Am festen Zeitmaßstab messen wir die Dauer und Geschwindigkeit der Veränderungen.

3. Eine logische Verstandeswahrheit: jeder Augenblick, den wir mit "Jetzt" bezeichnen, ist überall derselbe. Wäre es nicht so, dann würde die Welt als Ganzes nicht gleichzeitig existieren. Daher ist Gleichzeitigkeit absolut.  

     

Mittwoch, 3. Juli 2024

Inhaltsverzeichnis des Blogs "Was ist Zeit?"


"Wissenschaft besteht darin, Irrtümer loszuwerden." (Karl Popper)


Auflistung der einzelnen Beiträge in zeitlicher Reihenfolge
 
13. März 2011    Kritik der Raumzeit
21. Juli 2012       Rationalismus und Empirismus
5. Jan. 2013        Der Zeitpfeil
26. Jan. 2013      Hat die Zeit eine Geschwindigkeit?
11. Aug. 2013    Ist die Zeit eine Illusion?
13. Aug. 2013    Die absolute Zeit
14. Nov. 2013    Zur evolutionären Erkenntnistheorie
19. Juni 2014     Zeitpunkt, Ereignis, Dauer
9. März 2015      Newton: Raum und Zeit sind absolut
10. März 2015    Leibniz: Raum und Zeit sind Relationen
11. März 2015    Immanuel Kant: Raum und Zeit sind Verstandeskategorien
12. März 2015    Ernst Mach: Die absolute Zeit ist eine metaphysische Idee
13. März 2015    Kant und die evolutionäre Erkenntnistheorie
5. Juli 2015        Diskussion mit Klaus Robra
16. Juli 2015      Theorie der Zeit
12. Juni 2018     Kurze Theorie des Raumes
10. Aug. 2019    Grundlagen der Philosophie von Raum und Zeit
3. Mai 2020       Kurze Abhandlung über Raum und Zeit
29. Nov. 2020    Eine kurze Geschichte der Zeit
13. Aug. 2022    Nicht die Zeit verrinnt - die Welt verändert sich
3. Jan. 2023       Zum Jahreswechsel
21. Apr. 2023    Ein Nachwort, das nicht gedruckt wurde
17.März 2024   Wiedergefunden
21.April 2024   Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant (22. April 1724)


Meine Kritik von Einsteins Relativität der Zeit finden Sie auf www.zeitrelativ.blogspot.de

Wer ein Buch statt des Bildschirms bevorzugt, dem empfehle ich meine Bücher im Verlag epubli:

Luitpold Mayr: Neue Theorie des Raumes und der Zeit. 60 Seiten. 7,99 Euro. 
ISBN 978-3-752981-04-9

Luitpold Mayr: Was ist Zeit und ist sie relativ? (Eine aktualisierte Ausgabe 2019 von "Theorie der Zeit") 120 Seiten, 14,50 Euro, ISBN 978-3-746713-88-5 . Enthält neben der Theorie der Zeit auch die Kritik von Einsteins relativer Zeit.
Warum überhaupt das Angebot als Buch? Das Internet oder mein Blog kann untergehen durch Sabotage, Stromausfall, politische Wirren. Gedruckte Bücher sind beständiger. Sie haben allerdings den Nachteil, dass sie nicht ergänzt werden können.

Sonntag, 21. April 2024

Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant (22. April 1724)

 In den zahlreichen Veröffentlichungen zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant wird vielfach die Frage gestellt, was der große Philosoph uns heute noch zu sagen hat, gleich ob es um Frieden, Freiheit, Wahrheit, Moral, Vernunft, Glaube und Hoffnung geht. Kant hätte uns noch mehr zu sagen, wenn wir es nur hören wollten. Nämlich, dass Raum und Zeit angeborene Formen unseres Denkens und Erkennens sind. Dass die Physik um 1900 mit diesen Vorstellungen Kants nichts anfangen konnte, ist nachvollziehbar.  Denn Kants "idealistischer" Philosophie fehlte der Bezug zur realen Welt. Eben die reale Welt, die Materie, ist jedoch Gegenstand der Physik. Auch der Einwand von Philosophen gegen die Relativitätstheorie, Raum und Zeit als Denkkategorien könnten nicht relativ sein, war nicht hilfreich, weil als pauschale Aussage unzutreffend.

Doch in der Mitte des 20. Jahrhunderts entstand die evolutionäre Erkenntnistheorie, deren Grundüberlegung darin besteht, dass auch die Entwicklung des Verstandes im Verlauf der Menschheitsgeschichte durch die Umwelt geprägt wurde. So wie der Huf des Pferdes auf den Steppenboden passt, so passen die apriorischen Kategorien Kants zur Wirklichkeit. Dadurch werden Kants Vorstellungen von Raum und Zeit sozusagen "geerdet" und hängen nicht mehr in der Luft. Dass ausgerechnet Konrad Lorenz (1903 -1989, Nobelpreis 1973), der als "Gänsevater" populär gewordene Verhaltensbiologe, diese epochale Idee hatte, scheint Philosophen und Physiktheoretikern nicht gefallen zu haben. Und so träumt die Wissenschaft weiter von mathematischen Phantasiewelten mit Zeitreisen in einer gekrümmten Raumzeit. 

Mein Lieblingszitat von Immanuel Kant: "Wollte man der Zeit selbst eine Folge nacheinander beilegen, so müsste man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge möglich wäre." Dieser wenig bekannte Satz mag etwas rätselhaft klingen. Und doch ist er eine Bestätigung dessen, was Zeit ist. Eine angeborene Form unseres Denkens und Erkennens. Die materielle Welt bewegt und verändert sich ständig. Ohne unser bewusstes Zutun ordnet der Verstand die Bewegungen und Veränderungen in die Zeitskala ein. Dies geschieht, indem der Verstand nach vorher/jetzt/nachher unterscheidet und mit einer festen Maßeinheit arbeitet. Diese Maßeinheit war in der Menschheitsentwicklung ursprünglich der Tag, jetzt ist die Sekunde als physikalische Maßeinheit international exakt definiert.  

    

Sonntag, 17. März 2024

Wiedergefunden

In meinen Unterlagen habe ich den folgenden Leserbrief  vom o5. Oktober 2022 an die "Augsburger Allgemeine" gefunden:

Ich halte es für unangebracht, die Relativitätstheorie kindgerecht erklären zu wollen. Kinder sollten nicht mit abstrusen Ideen von Erwachsenen indoktriniert werden, auch wenn diese Ideen im Gewand der Wissenschaft daherkommen. Schließlich geht es in Einsteins Relativitätstheorie nicht um eine neue Erkenntnis über die Natur, sondern um den sinnlosen Plan, variable Maßeinheiten einzuführen. Um die Relativität der Zeit postulieren zu können, hätte Einstein erst einmal eine überzeugende Vorstellung davon haben müssen, was Zeit ihrer Natur nach eigentlich ist. Als Einstein in seinen letzten Lebensjahren zu recht an seinen eigenen Theorien zweifelte, flüchtete er sich in die Idee, die Zeit sei eine Illusion. Letzteres wird heute von manchen Wissenschaftlern und Philosophen als die allerneueste Erkenntnis verbreitet. 

Also, liebe Fernsehleute, Zeitungsmacher und Kinderbuchautoren, verschont bitte die Kinder mit der Relativitätstheorie. Versucht statt dessen, ihnen eine Ahnung davon beizubringen, was der große Immanuel Kant an bleibenden Wahrheiten über Raum und Zeit geschrieben hat.   

Freitag, 21. April 2023

Ein Nachwort, das nicht gedruckt wurde

 Zuletzt ergänzt im April 2024

Erst nach der Veröffentlichung meines kleinen Buches "Neue Theorie des Raumes und der Zeit" im Jahr 2020 bin ich zufällig auf die Aussage von Immanuel Kant gestoßen: "Wollte man der Zeit selbst eine Folge nacheinander beilegen, so müsste man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge möglich wäre."

Dieser Satz ist wenig bekannt, weil er nicht in den grundlegenden Ausführungen Kants über Raum und Zeit zu finden ist, sondern erst an späterer Stelle der "Kritik der reinen Vernunft". Es war für mich eine Offenbarung, das Ergebnis meines jahrelangen Forschens und Nachdenkens über die Zeit durch den großen Philosophen bestätigt zu finden. Nicht die Zeit verläuft, denn sie ist ein festes Maß, sondern die Veränderungen der realen Welt bilden einen Verlauf. Alles fließt, und das Dahinfließen der Welt messen wir am Maßstab der Zeit.   

Auf der einen Seite war ich glücklich über diese Bestätigung meiner Zeittheorie in diesem entscheidendem Punkt durch Immanuel Kant. Denn wer würde mir, dem wissenschaftlichen Außenseiter und Autodidakten glauben, dass die Zeit - entgegen aller gängigen Vorstellungen - nicht dahinfließt? Allerdings beschreibt  Kant die Zeit als reine Verstandeskategorie ohne Bezug zur realen Welt. Daher habe ich die Sorge, dass Philosophen, die nie verstanden haben, was Zeit ist, sich auf Kant berufen, wenn sie die Zeit zu einer Illusion erklären. Dabei unterliegen sie einem doppelten Irrtum. Dass die Zeit stillsteht, bedeutet ja keineswegs, dass die Welt stillsteht (sie nennen dieses Unding ein "Blockuniversum"). Der zweite Irrtum: Wir Menschen mögen vielen Illusionen unterliegen. Aber nicht alle Verstandesprodukte, wie Raum, Zeit, Mathematik usw. sind Illusionen. Vielmehr sind sie Werkzeuge unseres Verstandes.

Dienstag, 3. Januar 2023

Zum Jahreswechsel

 Das Jahr 2022 ist vorbei, und 2023 hat begonnen. Wie soll man angesichts des Jahreswechsels den Leuten erklären, dass die Zeit weder voranschreitet noch dahinfließt?

Nicht die Zeit schreitet voran, denn sie ist eine Skala, ein fester Maßstab. Sondern die Welt verändert sich ständig, von Sekunde zu Sekunde, von Jahr zu Jahr. Das Voranschreiten der Welt messen wir am Maßstab der Zeit, indem wir die Änderungen und Ereignisse in die Zeitskala einordnen. 

Deshalb ist die Frage sinnlos, mit welcher Geschwindigkeit die Zeit verfließt. Sondern mit Hilfe der Zeit stellen wir fest, mit welchen Abständen und mit welcher Geschwindigkeit die Veränderungen und Ereignisse aufeinander folgen. 

Unser Denken und Erkennen ist an die Formen Raum und Zeit gebunden, und zwar ohne unser bewusstes Zutun. Denn die Denkkategorien Raum und Zeit sind uns angeboren, wie Immanuel Kant schon vor mehr als 200 Jahren gelehrt hat. Mit Hilfe der Zeit ordnen wir das Nacheinander der Dinge, mit Hilfe des Raumes ordnen wir das Nebeneinander der Dinge. Auf diese Weise ordnet der Verstand die Außenwelt, sodass wir uns besser zurechtfinden. Was wir auf der Zeitskala dem Jahr 2022 zuordnen, existiert nur noch in unserer Erinnerung. Was jetzt, in dieser Sekunde stattfindet, ist real. Was wir erwarten, ist zukünftig.

Samstag, 13. August 2022

Nicht die Zeit verrinnt - die Welt verändert sich

 "Die Zeit verrinnt, Nacht folgt auf Nacht,

und immer noch die Katze träumt ..."           (Oscar Wilde)


(zuletzt bearbeitet im Februar 2023)

Dies  ist nur eines von unzähligen Beispielen aus Literatur und Philosophie, in denen das Verrinnen der Zeit geschildert wird. Nach unserer alltäglichen Vorstellung, die jedem von uns als selbstverständlich gilt, fließt die Zeit dahin. Doch die notwendig daraus folgende Frage, mit welcher Geschwindigkeit die Zeit verläuft, kann niemand vernünftig beantworten. 

Manche versteigen sich in ihrer Ratlosigkeit zu der Überlegung, die Zeit sei eine Illusion. Denn die Vergangenheit existiert nicht mehr, die Zukunft existiert noch nicht, und die Gegenwart sei lediglich die Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft. Solche Gedankenakrobatik übersieht jedoch, dass die Zeit nicht aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft besteht, sondern die Zeit befähigt uns dazu, vorher, jetzt und nachher in der realen Welt zu unterscheiden. - Schon Einstein schrieb in seinen letzten Jahren, als ihn Zweifel an seinen eigenen Theorien plagten, die Zeit sei eine Illusion. Das war die logische Konsequenz aus der Relativitätstheorie, nach der die Zeit von der Geschwindigkeit abhängt. Wenn aber in der Welt alles mit unterschiedlicher Geschwindigkeit in Bewegung ist, kann man Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht mehr unterscheiden. 

Die Zeit besteht nicht in der endlosen Abfolge von Tagen und Nächten, sondern wir ordnen und messen diese Abfolge am Maßstab der Zeit. Schon Immanuel Kant hat die Vorstellung der dahinfließenden Zeit verworfen. "Wollte man der Zeit selbst eine Abfolge nacheinander beilegen, so müsste man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge möglich wäre." (Kritik der reinen Vernunft). Damit bekräftigt Kant, dass wir jede Abfolge, jedes Nacheinander, nur anhand der Verstandeskategorie "Zeit" erkennen und beschreiben können. Diese Aussage Kants ist kaum bekannt. Ich vermute, dass der Satz, wonach die Zeit nicht aus einer Abfolge besteht und somit nicht verläuft, seinen Schülern und Interpreten derart frappierend und mit der gängigen Vorstellung unvereinbar erschien, sodass sie darüber hinweggelesen haben. (Sollte ich mit dieser Vermutung dem einen oder anderen Kant-Experten unrecht tun, bitte ich um Nachsicht).

Ich gebe zu, der Gedanke wirkt etwas befremdlich und bedarf bewusster Überlegung. Der Blick auf eine gewöhnliche Uhr mit Sekundenzeiger mag dabei hilfreich sein. Der Zeiger symbolisiert nicht den Fortgang der Zeit, sondern ist ein Teil der realen Welt, die sich von Sekunde zu Sekunde verändert. Die Zeit wird dargestellt und abgelesen auf der feststehenden Skala, die nach jeder vollen Zeigerumdrehung wieder bei Null beginnt und dadurch endlos ist. *) 

Für manche Erkenntnisse des großen Philosophen war die Welt um 1800 vielleicht noch nicht reif. Um so mehr trifft dies heute zu, da die Wissenschaft uns erzählt, Raum und Zeit seien physikalische Dinge, die in rätselhaften Wechselwirkungen mit der Materie stünden.

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 *) Das Beispiel mit der Uhr beweist nichts, denn es gibt auch Uhren, bei denen sich die Zeitskala dreht und der Zeiger feststeht. Das Beispiel soll nur helfen, die gewöhnungsbedürftige Vorstellung zu veranschaulichen, dass die Zeit nicht dahinfließt, sondern ein festes Maß ist. Was dahinfließt, sind die ständig wechselnden Veränderungen der realen Welt. 


PS.: Inzwischen bin ich auf ein gegenteiliges literarisches Zitat gestoßen: "Die Zeit steht still. Wir sind es, die vergehen."  (Mascha Kaleko)