Wir sprechen vom Verlauf der Zeit und neigen zu der Vorstellung, dass die Zeit wie ein Fluss ständig dahinfließt. Dann liegt die Frage nahe, mit welcher Geschwindigkeit der Fluss fließt. Doch diese Frage resultiert nur aus der Ungenauigkeit der Sprache, die wiederum aus der Ungenauigkeit des Denkens kommt. Von Natur aus haben wir keine genaue Vorstellung davon, was Zeit ist. Der Eindruck des Dahinfließens entsteht auf der Grundlage der ständigen Veränderungen in der Außenwelt. Doch nicht die Zeit fließt dahin, sondern der Verlauf der realen Geschehnisse bildet einen ständig fließenden Strom. Die realen Veränderungen und Bewegungen verlaufen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Die Zeit dagegen fließt nicht und verläuft nicht, sondern ist das Maß für die Dauer zwischen zwei Ereignissen. Mit der Uhr messen wir die Dauer eines bestimmten Vorgangs, woraus wir wiederum die Geschwindigkeit des Vorgangs berechnen können. Die Uhr ist vergleichbar dem Meterstab, den wir als Werkzeug zum Messen von Längen benötigen.
Wir sehen das auch an der Formel v = s/t (Geschwindigkeit = zurückgelegte Strecke je Zeiteinheit). Geschwindigkeit wird an der Zeit gemessen, ohne dass der Zeit selbst eine Geschwindigkeit zugeordnet werden kann. Der "gleichmäßige Verlauf der Zeit" - dieser Ausdruck ist ungenau, es muß heißen: Das Gleichmaß der Zeit! - besteht lediglich darin, dass eine Sekunde (man könnte sich auch auf eine andere Maßeinheit verständigen) stets die gleiche Dauer hat. Doch die Sekunde hat keine Geschwindigkeit, sondern ist eine Maßeinheit.
Man kann versuchen, sich das an einer Uhr zu verdeutlichen. Es ist ohne Belang, ob der Sand schnell oder langsam durch die Sanduhr fließt. Es kommt nur darauf an, dass der Sand gleichmäßig fließt. Eine Minute kann man dann an der Skala markieren, so dass die Minute jederzeit wieder darstellbar ist (solange man für einen ungestört gleichmäßigen Lauf der Sanduhr sorgt, das heißt, sie darf - ähnlich wie eine Atomuhr - nicht wechselnder Schwerkraft oder Beschleunigung ausgesetzt werden). - Entsprechendes gilt für die Pendeluhr. Das Pendel schwingt bei der einen Uhr schnell, bei der anderen Uhr langsam. Es kommt nur auf die gleichmäßige Schwingungsdauer an. Am Zifferblatt der Uhr lesen wir Sekunden ab. Damit vergleichen wir die Dauer eines realen Vorgangs und können seine Dauer in Sekunden angeben.
Der Gedanke, dass der Gang von Uhren gleichzusetzen ist mit dem Verlauf der Zeit, stammt aus der speziellen Relativitätstheorie und beruht auf der Verwechslung von Zeit und Uhrzeit. Uhren gehen aus unterschiedlichen Gründen nie absolut gleichmäßig. Daraus auf einen unterschiedlichen Verlauf der Zeit zu schließen, ist ein Irrtum. Wenn die Uhr ungleichmäßig geht, dann korrigieren wir die Uhr, nicht aber die Zeit.
Nachtrag vom September 2021:
Die zutreffende Antwort auf die irrige Vorstellung der dahinfließenden Zeit wusste schon Immanuel Kant: "Wollte man der Zeit selbst eine Folge nacheinander beilegen, so müsste man noch eine andere Zeit denken, in welcher diese Folge möglich wäre" (Kritik der reinen Vernunft).