Dienstag, 12. Juni 2018

Kurze Theorie des Raumes

zuletzt bearbeitet im Juni 2022

Grundüberlegung:
Der Raum ist, wie zum Beispiel auch Zeit oder Zahl, eine angeborene Form des Denkens und Erkennens, eine Denkkategorie a priori im Sinne von Immanuel Kant. Der in der idealistischen Philosophie Kants nicht erkennbare Zusammenhang zwischen Denkkategorien und realer Außenwelt wird durch die evolutionäre, durch die Umwelt beeinflusste Entwicklung des Verstandes hergestellt. Als angeborenes Ordnungssystem entsteht der Raum aus der Unterscheidung oben/unten, links/rechts und vorn/hinten, kurz aus der Unterscheidung der Position der Dinge. Daraus entwickelt sich auf natürliche Weise der Raum als dreidimensionales Koordinatensystem, in welches der Verstand die Dinge einordnet. 

Die historische Entwicklung   

Der Raum ist wie die Zeit seit der griechischen Antike Gegenstand naturphilosophischer Theorien. Was ist der Raum? Ist er  endlich oder unendlich? Existiert der leere Raum oder ist er einfach nichts, das Leere? Ist der leere Raum etwas Materielles? So lauten häufige Fragestellungen.

In der Neuzeit haben Newton, Leibniz und Kant die wesentlichen gedanklichen Grundlagen über Raum und Zeit gelegt. Hier sei nur kurz das Wesentliche wiederholt.

Nach Isaac Newton existieren der absolute Raum und die absolute Zeit genauso wie andere Dinge. Gäbe es nicht die Dinge in der Welt, so blieben trotzdem noch Raum und Zeit. Dagegen vertrat Gottfried Wilhelm Leibniz den Relationismus. Der Raum besteht lediglich in Relationen zwischen den Dingen, also in Lagebeziehungen, Abständen und Größenverhältnissen. Immanuel Kant hat Substantialismus und Relationismus verworfen. Nach Kant sind Raum und Zeit die grundlegenden Formen unseres Denkens und Erkennens.

Die kritischen Einwendungen gegen diese Konzepte sind  bekannt. Zum Substantialismus von Newton: Welche Art von Substanz wäre der Raum, der wie andere Dinge existiert? Zum Relationismus von Leibniz: Die Existenz materieller Dinge allein ist noch kein Raum. Außerdem wird der Raum bereits vorausgesetzt, wenn er in den räumlichen Beziehungen zwischen den Dingen besteht. Zu Kants Idealismus: Es bleibt ungeklärt, warum wir uns mit den angeborenen Denkkategorien Raum und Zeit in der Außenwelt zurechtfinden können.

Die evolutionäre Erkenntnistheorie liefert eine Erklärung dafür, warum uns Raum und Zeit als Denk- und Erkenntnisformen angeboren sind. Sie dienen unserer Orientierung in der Außenwelt. Sie sind uns angeboren, weil die Entwicklung des Verstandes durch die Evolution geprägt wurde.

Wie entsteht die Vorstellung des Raumes im Verstand? Die Außenwelt besteht aus zahllosen Dingen, einem bunten Chaos, in welchem sich der Mensch zurechtfinden muss. Ordnung in dieses Chaos bringt ein Koordinatensystem, in welches der Verstand ohne unser Zutun, also unbewusst die Dinge einordnet. Drei geradlinige Raumdimensionen, das ist die einfachste Form des Raumes, und mehr ist nicht notwendig, um jedes Ding einzuordnen und jeden Punkt im Raum eindeutig zu definieren. Durch den Fortschritt der Mathematik wurden auch vieldimensionale Räume und gekrümmte Dimensionen möglich. Aber die Grundlage unseres Denkens und Erkennens ist der dreidimensional geradlinige Raum, ohne den wir die Form eines Gegenstandes gar nicht erkennen und beschreiben könnten.

Der Verstand greift mit den Sinnesorganen hinaus in die Außenwelt und verortet die Dinge in einem  abstrakten Koordinatensystem. Weil dies unbewusst geschieht und weil sich die realen Dinge tatsächlich in der Außenwelt befinden, haben wir von Natur aus schon immer die Vorstellung, dass der Raum in der Außenwelt ist. Auch Newton und Leibniz hatten diese Vorstellung, und die moderne Physik glaubt dies ebenfalls. Aber in Wirklichkeit ist der Raum eine angeborene Abstraktionsleistung des Verstandes.

Wenn wir sagen, dass es außerhalb des Verstandes keinen Raum gibt, bekommen wir scheinbar  ein Problem. Tief ist von Natur aus die Vorstellung in uns verwurzelt, dass sich der Raum in der Außenwelt befindet. Sofort sagt uns der Alltagsverstand, dass wir doch unbestreitbar in einem äußeren Raum leben, der durch Berge, Flüsse und Meere gegliedert und begrenzt wird. Was sonst als ein Raum wäre der Weltraum, der Sterne, Planeten und Staubwolken enthält? Der äußere Raum ist in der uns angeborenen Denkweise der Raum schlechthin. Dem konnte sich auch Immanuel Kant nicht entziehen, dem wir die Einsicht verdanken, dass Raum und Zeit angeborene Formen des Denkens und Erkennens sind. Er bezeichnete den Raum als die äußere Form des Erkennens, im Gegensatz zur Zeit, der inneren Form des Erkennens. Diese etwas willkürlich erscheinende Unterscheidung ist erklärbar, weil wir von Natur aus glauben, der Raum befinde sich in der Außenwelt. Die Auflösung des Problems: Der Raum existiert nur im Verstand. In der Außenwelt existieren nur die Dinge. Weil wir die Dinge in den Raum einordnen, haben wir den Eindruck, der Raum befinde sich, wie die Dinge, in der Außenwelt.

In der Wissenschaft ist die Unterscheidung zwischen mathematischen Räumen und physikalischem Raum längst geläufig. Aber weder ein mathematischer Raum noch der äußere Raum existiert materiell. In der Außenwelt existieren die Dinge, der Raum dagegen ist eine abstrakte, gedachte Struktur. Wem dieser Gedanke befremdlich erscheint, der möge sich vergegenwärtigen, dass die Vorstellung Isaac Newtons von einem Raum, der in der Außenwelt real existiert, schon vor über 100 Jahren aufgegeben wurde. Die theoretische Physik hat sich um 1900 dafür entschieden, dass Raum und Zeit nur Relationen zwischen den Dingen sind. Demnach existieren nur die Dinge, dagegen bestehen Raum und Zeit nur in Relationen  zwischen Dingen, nämlich als Größenverhältnisse, Abstände, Dauer von Veränderungen. Gegen den  nächsten Schritt, wonach Raum und Zeit keine Eigenschaften der Materie, sondern ausschließlich Verstandeskategorien sind, sträubt sich die am Positivismus des 19.  Jahrhunderts klebende Wissenschaft mit Händen und Füßen. Wo es nichts zu beobachten, zu messen, zu experimentieren und zu berechnen gibt, sondern wo es ausschließlich auf die richtigen gedanklichen Grundlagen ankommt, wehrt sich die Wissenschaft gegen den Fortschritt und hält an dem fest, was man irrtümlich als mathematisch und experimentell erwiesen glaubt.

Der abstrakte, mathematische Raum kennt seiner Natur nach nicht oben und unten, nicht Nord und Süd, und er kennt keinen festen Bezugspunkt für Bewegung. Weil es keinen absoluten Raum gibt, ist Bewegung relativ, wie schon G. W. Leibniz gefolgert hat. Nur durch Konvention wird oben, unten oder ein Bezugspunkt festgelegt. Als Bewohner der Erde sind wir uns seit jeher darin einig, dass unten da ist, wohin die Schwerkraft wirkt. Wir sind uns außerdem im Alltag darüber einig, Bewegung und Geschwindigkeit auf die Erdoberfläche zu beziehen. Bewegung (im Sinne von Ortsveränderung) und Geschwindigkeit hängen vom gewählten Bezugssystem ab und sind daher relativ. Ohne Bezugssystem  ist der Begriff der Geschwindigkeit (im Sinne von Ortsveränderung) sinnlos.

Raum und Zeit sind nicht Teile oder Eigenschaften der materiellen Welt, sondern abstrakte Vorstellungen. Die abstrakte, mathematische Zeit ist nicht relativ, sondern ein festes Maß. Der Raum wird nicht durch Schwerkraft gekrümmt, sondern die Dinge verändern ihre Position im Raum. Zwar lässt sich eine Raumzeit konstruieren, weil der mathematischen Phantasie keine Grenzen gesetzt sind. Tatsächlich aber bilden Raum und Zeit nicht physikalisch, sondern in unserem Erleben eine Einheit. Unser Verstand fügt unbewusst und ohne unser Zutun das räumliche Nebeneinander und das zeitliche Nacheinander der Dinge zu einem einheitlichen Erleben zusammen. Nichts anderes meinte der in Göttingen lehrende Philosoph Melchior Palagyi mit seinem Begriff der Raumzeit, den er als Erster verwendet hat (1901). Allerdings verwendete er dabei geometrische Vergleiche, die den Mathematiker Hermann Minkowski dazu anregten, die Raumzeit auf die Physik zu übertragen.

Nicht mit dem Urknall sind Raum und Zeit entstanden, sondern mit der Fähigkeit des Verstandes, das Nebeneinander und das Nacheinander der Dinge zu beschreiben. Raum und Zeit sind angeborene Werkzeuge des Verstandes, mit denen wir uns in der Welt orientieren.


Objektive und subjektive Räume

Der Raum als individuelles Koordinatensystem ist subjektiv. Allein schon Lageveränderung und Bewegung des Individuums führen subjektiv zu einer anderen Anordnung der Dinge im Raum. Die Relationen der Dinge erscheinen relativ. Ein großes Haus erscheint in der Ferne klein wie ein Spielzeug. Doch der Verstand lässt sich durch die Perspektive nicht täuschen, sondern erkennt die objektiven Größenverhältnisse. Durch den Fortschritt der Wissenschaft gilt dies auch für  entfernte Himmelskörper.

Der Mensch hat das Bedürfnis und die Fähigkeit, den Raum zu objektivieren. Der Raum wird objektiv, indem er an bestimmten Merkmalen der Außenwelt festgemacht wird. Solche Merkmale sind zunächst der Boden unter den Füßen, dann die Schwerkraft und der Lauf der Sonne von Ost nach West. Alle Menschen sind sich von Natur aus darin einig, dass unten da ist, wohin die Schwerkraft wirkt. Durch den Lauf der Sonne wird zugleich Nord und Süd, Ost und West festgelegt. Durch die Objektivierung des Raumes wird eine Verständigung zwischen den Individuen möglich über die Positionen der Dinge in der Außenwelt.

Die Vorstellung von einem objektiven, allen irdischen Wesen gemeinsamen Raum wird erschüttert durch die Erkenntnis, dass die Erde keine Scheibe ist, sondern eine Kugel, die um die Sonne kreist. Durch diese Erkenntnis ist oben und unten nicht mehr dieselbe Richtung in allen Erdteilen. Wer den Gedanken zu Ende denkt, erschaudert zunächst bei der Vorstellung einer bodenlosen Welt ohne Oben und Unten. Doch auch in dieser neuen Situation bemüht sich der Mensch um die Objektivierung des Raumes. Die Astronomie verwendet unterschiedliche Koordinatensysteme zur Orientierung. So dient zum Beispiel die Ebene der Erdbahn um die Sonne als Orientierung. Für das galaktische System wird die Ebene der Milchstraße als Grundebene verwendet, wobei die Richtung zum Zentrum unserer Galaxis als Nullmeridian dient.

Die Objektivierung des Raumes durch Orientierung an Merkmalen der Außenwelt gibt uns Halt in einer bodenlosen Welt. Doch die Befestigung des Raumes an Dingen der Außenwelt befördert  leider auch unser angeborenes Vorurteil, wonach sich der Raum nicht im Verstand, sondern in der Außenwelt befindet.


Der Raum in der Außenwelt

Was aber ist der Raum außerhalb des Verstandes, das Leere zwischen den Dingen? Der Raum in der Außenwelt ist eine Projektion unseres Verstandes. Zur Unterscheidung vom inneren, gedachten Raum bezeichne ich ihn als Raumprojektion. Der Verstand ordnet ohne unser bewusstes Zutun das Nebeneinander der Dinge. Zu diesem Zweck wirft er eine Projektion des dreidimensional geradlinigen Raumes auf die reale Außenwelt. Nur im dreidimensionalen Raster erkennen wir die Form eines Gegenstandes. An den Dimensionen Länge, Breite und Höhe der Raumprojektion messen wir die Größen, Abstände und Positionen (die Relationen) der Dinge.


Alltäglicher Raum und wahrer Raum

Wenn Immanuel Kant die Zeit als die innere und den Raum als die äußere Form des Erkennens bezeichnet, so ist dies ein Hinweis auf eine damals ungelöste Frage. Das alltägliche Denken sieht den Raum stets in der Außenwelt. Unsere Raumprojektion ist auf  die Außenwelt und deren Dinge bezogen. Aus diesem Grund geht der Alltagsverstand schon immer davon aus, dass sich der Raum, nicht anders  wie die Dinge, in der Außenwelt befindet. Dagegen sehen wir im Licht der philosophischen Erkenntnis, dass der Raum in Wahrheit ein angeborenes Ordnungssystem ist, mit dem die Evolution unseren Verstand ausgestattet hat. Infolge der Differenz zwischen dem alltäglichen Raum und dem unerkannten wahren Raum war es möglich, dass der Raum seit Jahrhunderten bis in die Gegenwart als ein eigenständig existierendes Ding (Newton) oder als eine Eigenschaft der Dinge (Leibniz) gilt. Erst Immanuel Kant hat diese Irrtümer überwunden, jedoch herrscht in der Naturwissenschaft immer noch die alltägliche Vorstellung vom Raum, der außerhalb des Verstandes existiert.


Der absolute Raum

Isaac Newton wusste noch nicht, dass uns Raum und Zeit als Formen des Denkens und Erkennens angeboren sind. Er hat den uns angeborenen absoluten Raum naiv in die Außenwelt verlegt und als real existierendes Ding beschrieben, ebenso die absolute Zeit. Erst Immanuel Kant hat Raum und Zeit in das Bewusstsein gehoben als angeborene Denkkategorien. In der philosophischen Lehre von Karl Popper wären Raum und Zeit als Produkte des Verstandes der Welt 3 zuzuordnen (ob Popper bewusst war, dass Raum und Zeit Verstandesprodukte sind, bleibt offen).

Den absoluten Raum kann ich denken, aber tatsächlich ist er in der Außenwelt nicht nachweisbar und daher für die Naturwissenschaft nicht relevant. Da der Raum ein Verstandesprodukt ist, ist er seiner Natur nach endlos und unbegrenzt. Falls sich das Weltall ausdehnt, wie viele Kosmologen glauben, dann dehnt sich nicht der Raum aus, sondern das Weltall expandiert im unendlichen Raum.

Die Physik hält anscheinend immer noch am positivistischen Leitmotiv des 19. Jahrhunderts fest ("Die Beobachtung ist unsere einzige Wirklichkeit"), woraus letztlich folgt, dass es keine objektive Wirklichkeit gibt. Wird sie jemals verstehen, dass uns die Evolution einfache Verstandesgewissheiten geschenkt hat, die uns in die Lage versetzen, ein realistisches Bild von der Welt zu gewinnen? Zu diesen Verstandesgewissheiten gehören vor allem die absolute Gleichzeitigkeit (jeder Augenblick, den ich mit "Jetzt" bezeichne, ist überall derselbe)  sowie ein dreidimensional geradliniges Raumschema, an Hand dessen wir die räumliche Anordnung der Dinge und ihre Formen erkennen. Dann könnte die Physik auch verstehen, was Raum und Zeit trotz aller abgehobenen mathematischen Phantasien faktisch schon immer waren: Ordnungs- und Maßsysteme, nicht mehr und nicht weniger. Die Vermessung der Welt kann nicht gelingen mit variablen Maßeinheiten oder mit der Vorstellung, dass Raum und Zeit gegenseitig austauschbare  Attribute der Materie sind..    


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Hinweis: Nur ein Mitglied dieses Blogs kann Kommentare posten.